Dokumentation - "Ice Aged"
Bei den Festivals in Tallinn und Hof war "Ice Aged", die neue Dokumentation von Alexandra Sell ein Publikumsliebling. Es geht um sechs betagte Damen und Herren aus der ganzen Welt, die sich über mehrere Monate auf die Hobby-Weltmeisterschaften in Obersdorf vorbereiten.
Silver-Ager als Eisprinzen und Eisprinzessinnen
Eiskunstlauf verbindet man in der Regel eher mit sehr jungen Mädchen, die federleicht übers Eis fliegen. Wagen sich Ü60-Eisprinzen und Eisprinzessinnen auf die harten Stadionflächen, dann könnte man schon mal fürchten, dass sie sich bei ihren Pirouetten und Rittbergers ihre Knochen riskieren. Hier da hält man den Atem an, wenn die Senioren schnittig ihre Kurven drehen, aber nur ein einziges Mal passiert es tatsächlich, dass eine Hand kurz vor dem Wettbewerb eingegipst werden muss. Meistens staunt man über ihre Beweglichkeit und Elastizität.
Dass die Knochen ein bisschen schwächeln, wenn sie neben der Eislaufbahn Kniebeugen trainiert, nimmt die Niederländerin Toos van Urk Wintjes mit verschmitztem Humor: Ja müsse, die Knie trainieren, aber die seien ja nun schon 77 Jahre alt. Hier geht es vor allem um die unbändige Lust am Eiskunstlauf, und darum, auch spät im Leben, gegen alle Erwartungen und Grenzen, Jugendträume zu verwirklichen.
Die eislaufende Avon-Beraterin
Zum ersten Mal kam Alexandra Sell 2002 in Kontakt mit den Silver Ager-Eisprinzen und Eisprinzessinnen, und zwar im Rahmen eines Auftrages der Kosmetik-Firma Avon: In der 45-minütigen Dokumentation "The Avon-Project" portraitierte sie drei britische Avon-Beraterinnen, von denen eine spät im Leben den Eiskunstlauf für sich entdeckt hatte. Ihr widmete Sell 17 Jahre später ihr Spielfilmdebüt "Die Anfängerin", über eine 58-Jährige, die sich in einer Lebenskrise auf ihren Kindheitstraum besinnt, auf dem Eis quasi ein spätes Coming of Age erlebt und unter den Eislauf-Amateuren und Profis eine Ersatzfamilie findet.
In "Ice Aged" verwebt sie jetzt sechs sehr unterschiedliche Lebensgeschichten auf dem Weg zu den Hobbyweltmeisterschaften in Obersdorf m Wettbewerb, zu einem Dokumentarfilm, der nicht nur inhaltlich, sondern auch formal sehr besonders und auf unprätentiöse Weise poetisch ist.

Die Poesie des Eiskunstlaufs
Mit großer Zärtlichkeit nimmt die Regisseurin die in die Jahre gekommenen EisläuferInnen in den Blick, lässt sich von ihnen in weich ausschweifenden Kreis-Bewegungen in den Sog der Eisbahn ziehen. Die Kamera hat die Regisseurin weitgehend selbst geführt, unterstützt von Eislauf- Stars mit deren subjektiver Kamera auch die Zuschauer übers Eis gleiten. Im Schnitt verwebt sie diese sechs Lebensläufe auf fließende Weise.
Statt nun die Protagonist:innen als Talking Heads ihre eigene Geschichte erzählen zu lassen, übernimmt Nina Kunzendorf das in einem Off-Kommentar, der anfangs ein bisschen künstlich wirkt, dem Film auch ein besonderes Flair gibt, etwa wenn sie die in Duisburg lebende russische Ingenieurin Leanna vorstellt, die in Deutschland Elena heißt: "Leanna, du bist mein Licht und mein ganzer Stolz", sagte der Vater und reiste ab, zu seiner geheimen Arbeit fürs sowjetische Militär. "Leanna, du bist die Strafe für meine Sünden", sagte die Mutter, sperrte sie zuhause ein und ging zur Arbeit. Doch mit Hilfe eines beachtlichen Turmbaus an Küchenstühlen sprang Leanna aus dem Fenster und sauste hinaus aufs Eis."
Das Wichtigste sind diese sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, die dem Alter mit ihrer fast kindlichen Freude und leidenschaftlichen Begeisterung für den Eiskunstlauf allesamt ein Schnippchen schlagen.

Mit blitzenden Augen und lachendem Mund
Für jeden der Ice-Ager war der Eiskunstlauf ein Jugendtraum, den sie nun in hohem Alter verwirklichen oder wieder aufnehmen. Da ist die exzentrische Britin Linda in ihren Siebzigern, die vor 50 Jahren an den Olympischen Spielen teilgenommen hat, ihr Leben seit dem Tod ihres Mannes nur noch mit einer Schar Teddybären teilt, und von einem Londoner Schaffner und einer russischen Eistänzerin wieder aufs Eis und aus einer Depression geholt wurde.
Die Niederländerin Toos mit ihren 77 Jahre alten Knien wird von ihrem Mann Harm, ihrem treuesten Fan, in alle Eisstadien begleitet. Der deutsche Wirtschaftsprüfer Roland Suckale hat sein Jugendhobby mit rund 60 Jahren wieder aufgenommen. Schließlich die quirlige Elena, "mit dem wohlverdienten Spitznamen 'Kernkraftwerk'", eine russische Dreifach-Ingenieurin, die sich ihre aufwendigen Kostüme in akribischer Kleinarbeit zum Teil über zwei, drei Jahre selber näht: "Wenn man sowas anzieht, damit fühlt man sich anders", schwärmt sie mit blitzenden Augen und lachendem Mund: "Du musst das auch probieren!" Am Anfang des Films sieht man sie im Minnie-Maus-Kostüm mit überdimensionalen Wimpern und großen gelben Überziehern über den Schlittschuhen.
Und dann ist da noch die berühmte Preisrichterin Sissi Krick, die das Eislaufen mit 17 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, und auf die andere Seite der Stadionbande wechselte. All diesen Menschen begegnet Alexandra Sell immer auf Augenhöhe, niemals herablassend, aber immer wieder schmunzelnd
Anke Sterneborg, radio3