Gagarin © Film Kino Text - Jürgen Lütz
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Sozialdrama - "Gagarin – Einmal schwerelos und zurück"

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Die Pariser Banlieue hat keinen guten Ruf: Armut, Gewalt, Kriminalität, eine Jugend ohne Zukunft - von diesem harten Pflaster haben schon viele Filme erzählt. Einer der berühmtesten ist "La Haine" von Mathieu Kassovitz - das liegt fast 30 Jahre zurück. Jetzt kommt ein neuer Film in unsere Kinos: "Gagarin - Einmal schwerelos und zurück" von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh. Benannt ist der Film nach der berühmten französischen Sozialbausiedlung Cité Gagarin im Südosten von Paris, deren Bau 1961 begann, die ab 2019 nicht abgerissen, sondern sukzessive rückgebaut wurde. Der mehrfach ausgezeichnete Film von 2020 kommt nun mit Verspätung in unsere Kinos.

Im Jahr 2014 entdeckten Fanny Liatard und Jérémy Trouilh die Siedlung und waren sofort fasziniert von der lebendig quirligen Dynamik der Nachbarschaft, zum großen Teil Immigranten aus dem Maghreb, und ihrer Wechselwirkung mit der Bienenwaben-Architektur des Betonriesen, zu dessen Einweihung Juri Gagarin zwei Jahre nach seinem Weltraumflug persönlich erschienen ist. Doch aus diesem zukunftsfrohen Aufbruch wurde in den folgenden Jahrzehnten ein runtergewirtschafteter, maroder, asbestverseuchter Komplex, in dem alles bröselt und nichts mehr funktioniert. Zunächst drehten die beiden Regisseur:innen dokumentarisches Material in der Siedlung, daraus entstand 2015 ein Kurzfilm, der wohl eine Art Skizze zum 2020 gedrehten Spielfilmdebüt war.

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Gagarin forever!

Der 16-jährige Youri (lseni Bathily) kümmert sich als selbsternannter Hausmeister um Reparaturen von Lichtschaltern und Aufzügen in dem maroden Komplex – auch, weil ihm im Falle eines Abrisses die Einweisung ins Kinderheim drohen würde. Seine Mutter lebt schon seit einer Weile mit einem neuen Mann, von dem sie auch schon wieder schwanger ist. Sie hat Youri allein zurückgelassen. Statt ihn zu holen, schreibt sie nur einen schnöden Brief, dem sie ein paar Geldscheine beilegt.

Youri setzt er alles daran, den Bau zu erhalten – angefangen damit, dass er 30 Euro Schulden eintreiben will, um auf Schrottplätzen Materialien für die Instandsetzung zu kaufen. Seine Kumpels aus der Cité machen sich über ihn lustig: "Mit 30 Euro? Ein Witz!". Das sei ein Anfang, kontert er, man müsse den Glauben bewahren!

"Gagarin forever!" ist sein Schlachtruf, doch die anderen Jungs haben eher so eine No Future-Haltung und lachen ihn aus.

Magie, gezaubert aus wertlosem Abfall

Youri, nach dem berühmten Kosmonauten benannt, ist in vielerlei Hinsicht Symbolfigur für den Ort, zugleich fasziniert und inspiriert von seinem Namensgeber. Obwohl er die Cité noch nie verlassen hat, strebt er in die Weite des Alls, träumt davon, Raumfahrer zu werden. Schon als Junge hat er sich aus alten Bällen ein Mobile des Planetensystems gebastelt, heute lauscht er Fernsehberichten über das Leben in der Raumstation.

Als nach und nach alle anderen ausziehen und er irgendwann allein zurückbleibt, beginnt er, seine Welt in eine Art Weltraumstation zu verwandeln: mit Styroporkisten als Dämmung gegen die Kälte des Winters. Und ähnlich wie Bruce Dern im Science Fiction-Klassiker "Silent Running" oder Matt Damon in "Der Marsianer" baut er sich ein Gewächshaus mit Gemüse und Pflanzen, mit dem er auch das Roma-Mädchen Diana beeindruckt, die er schon lange aus der Ferne durch sein Teleskop beobachtet:

"Das Wichtigste im Weltraum ist die Luft", erklärt er ihr. "Wie funktioniert das?", fragt sie. "Das gilt auch hier: Es braucht Belüftung, damit es keine CO2-Blase gibt. Wasser Boden, Luft - das sind die drei lebenswichtigsten Elemente. Im Gewächshaus herrscht ein Gleichgewicht aus allen dreien." Und dann zeigt er ihr den Sternenhimmel, den er mit Licht und Löchern in einer Stoffplane simuliert.

Immer wieder stellt er aus völlig wertlosen Materialien, die in den Wohnungen zurückgeblieben sind, Magie her.

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Taff und fragil, pragmatisch und phantasievoll

Während Alseni Bathily als Youri zum ersten Mal vor der Kamera steht, hat Lyna Khoudri schon eine lange Karriere - unter anderem stand sie bei Wes Anderson in "The French Dispatch" vor der Kamera und neben Nathalie Baye in "Haute Couture". In "Gagarin – Einmal schwerelos und zurück" lassen die beiden Teenager, die immer in unsicheren Verhältnissen gelebt haben und viel zu früh erwachsen und selbstständig werden mussten, ihre Figuren zwischen Härte und Sanftheit, kindlicher Verspieltheit und erwachsenem Ernst oszillieren. Sie sind immer fragil und taff, pragmatisch und phantasievoll zugleich.

Der Betonklotz als schwereloses Raumschiff

Ausgangspunkt des Films ist das dokumentarische Material, von dem immer wieder Passagen in den Film eingestreut werden, die ihn in der Wirklichkeit erden. Wenn eine Nachbarin, die für Youri fast zur Ersatzmutter geworden ist, im Film ihre Fluchtgeschichte erzählt, liegt es nahe, dass es genauso auch einer der realen Bewohner:innen erlebt hat. Fließend sind die Übergänge zwischen den Härten im sozialen Brennpunkt und märchenhafter Magie.

Gagarin © Film Kino Text - Jürgen Lütz
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Die schwebend-schwerelose Kamera von Victor Seguin verleiht dem hässlichen Wohnkomplex einen Zauber, lässt ihn, unterstützt von den sphärischen Weltraumklängen des Soundtracks, immer wieder wie ein Raumschiff wirken. Mit all den Momenten der Wehmut und Traurigkeit in den Gesichtern ist das so fein und genau erzählt, dass die Märchenhaftigkeit das harsche Sozialdrama nie in Frage stellt.

Wie viele Kino-Jugendlichen vor ihnen gelingt es auch Youri und Diana, der eigentlich unerträglich trostlosen Situation mittels Fantasie alternative Wirklichkeiten entgegenzusetzen. So hebt der Film in gewisser Weise die Schwerkraft auf, nimmt diesem Betonklotz die Schwere und den Bewohnern darin die Härte.

Anke Sterneborg, radio3

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