Autobiografische Erzählung - Thomas Strässle: "Fluchtnovelle"
In seinem Buch "Fluchtnovelle" schildert Thomas Strässle die Geschichte zweier Menschen, die sich 1965 in Erfurt kennenlernen. Sie ist eine Studentin aus der DDR, er stammt aus der Schweiz. Was beide verbindet, ist die Liebe, der der Eiserne Vorhang im Wege steht. Um das Repressalien-System zu überlisten, welches Menschen an der Ausreise aus der DDR hindert, schmiedet das junge Liebespaar einen Plan.
Es ist, wie man so sagt, eine "wahre Geschichte". Zugetragen hat sie sich in den Jahren 1965 und 1966. Thomas Strässle erzählt die Geschichte seiner Eltern, eine Liebesgeschichte ebenso wie die Geschichte ihrer Flucht. Sein Vater, ein Schweizer, lernte damals bei einem Studienaufenthalt in der DDR eine junge Frau kennen. Die beiden verliebten sich.
Strässle erzählt die wahre Fluchtgeschichte seiner Eltern
Er, der in Westberlin studierte, aber auch an der Humboldt-Universität im Ostteil der Stadt eingeschrieben war, durfte sie in Dresden oder bei ihrer Mutter in Karl-Marx-Stadt besuchen. Dort zu bleiben, kam für ihn aber nicht in Frage, und so ging es bald darum, wie sie aus der DDR herauszubringen wäre. Eine legale Möglichkeit der Ausreise gab es nicht, nur das Angebot über einen Anwalt, die Sache für 50.000 Mark zu arrangieren. Das konnten sie sich nicht leisten. Also blieb nur die Flucht oder vielmehr eine trickreich eingefädelte Ausreise mit falschen Papieren.
Eine dokumentarische Montage
Strässle rekonstruiert die Flucht minutiös von der Idee über die Planung bis zum entscheidenden Tag, der dann doch überraschend anders verlief als gedacht. Grundlage der "Novelle" ist ein auf Band aufgezeichnetes Gespräch, das seine Eltern 1975 mit dem Schriftsteller Hermann Burger führten. Burger dachte darüber nach, diese Geschichte literarisch zu verwerten, was er dann aber, abgesehen vom Entwurf für einen Fernsehfilm aus dem Jahr 1986, unterließ. Strässle wusste von dem Gespräch und fand die Tonkassette 1993 in Burgers Nachlass im Schweizer Literaturarchiv. Kurze Passagen davon hat er in sein Buch übernommen. Sie belegen vor allem, wie schwer es den Eltern zehn Jahre nach der Flucht fiel, sich exakt daran zu erinnern. Oft sind sie sich uneinig in der genauen Datierung und in den Details.
Darüber hinaus greift Strässle auf Originaldokumente zurück, Ausweise, Briefe, Flugtickets usw. und wurde auch im Stasi-Unterlagen-Archiv fündig. Zudem zitiert aus dem Strafgesetzbuch der DDR und aus dem Regelwerk für die Visavergabe, was seine "Fluchtnovelle" zu einer dokumentarischen Montage werden lässt.
Dazu kommen zahlreiche Perspektivwechsel. Strässle baut eigene Kindheitserlebnisse etwa von Reisen in die DDR in der Ich-Form ein, lässt die Eltern auf Basis des Burger-Gesprächs sich dialogisch erinnern, und betätigt sich als auktorialer Erzähler, wenn er den Verlauf der Flucht nachvollziehbar macht. Das ist ein bisschen viel an Brüchen und disparatem Material für eine Novelle, die doch klassischerweise eine geschlossene Form für sich beansprucht.
Von der absurden Normalität einer Epoche
Dennoch ist Strässles Geschichte spannend zu lesen, und das, obwohl man weiß, dass die Sache gut ausgegangen sein muss und schon zu Beginn erfährt, dass die Flucht über Prag und mit einem gefälschten Pass geplant war. Auch die Ausgangsidee, nicht die Ausreise, sondern die Einreise zu fälschen, die Überwacher also durch einen Richtungswechsel zu täuschen, wird früh verraten. Doch Überraschungen aus unvorhergesehenen Richtungen sorgen für ganz neue Spannungsmomente.
Die "Fluchtnovelle" erinnert an die absurde Normalität einer Epoche, in der es Liebenden nicht gestattet war, dort zu leben, wo sie leben wollten. Sie ist stark darin, die Atmosphäre der Angst und Überwachung nachzuzeichnen. Deutlich weniger intensiv ist die Liebesgeschichte, die vermutlich schon deshalb unterbelichtet bleibt, weil da ein Sohn über die eigenen Eltern schreibt und entsprechend zurückhaltend bleibt. Vom zeitgeschichtlichen Kolorit einmal abgesehen, wäre die Liebesgeschichte womöglich interessanter als die Flucht, deren finales Gelingen ja nie in Frage steht, weil die Mutter bereit sein musste, ihr ganzes bisheriges Leben für die Zukunft mit einem Mann, den sie kaum kannte, in einem fremden Land hinter sich zu lassen.
Konnte das gut gehen? Dass die Eltern bis heute zusammengeblieben sind, erfährt man in Strässles Nachwort. Wie ihnen die gemeinsame Lebensreise gelang, wäre aber wohl eher Stoff für einen Roman als für eine Novelle.
Jörg Magenau, radio3