Aus der neuen Reihe "Das Leben lesen" bei Hanser Berlin - Elke Heidenreich: "Altern"
" Das Leben lesen" heißt eine neue Reihe, die der Berliner Ableger des Münchner Hanser Verlages gegründet hat: Svenja Flaßpöhler wird einen Essay übers "Streiten" vorlegen, Heike Geißler denkt über das "Arbeiten" nach und Daniel Schreiber über das "Essen". Felicias Hoppe widmet sich dem "Reisen", Karen Köhler dem "Spielen" und Doris Dörrie dem "Wohnen". Den Auftakt zur neuen Reihe machen Theresia Enzensberger mit einem Essay über das "Schlafen" und Elke Heidenreich mit Überlegungen zum "Altern". Ein Buch der inzwischen 81-jährigen Autorin über den seltsamen Widerspruch, dass eigentlich alle alt werden, aber niemand wirklich alt sein will ...
Keine Bange: Die streitbare Zeitgenossin hat kein altersmildes Buch über die Gebrechen und Nöte des Alters verfasst. Das würde auch allem widersprechen, wofür Elke Heidenreich bekannt ist: für pure Lebensfreude und notorisches Querulantentum. Sie ist und bleibt die Nervensäge der Nation, die kein Blatt vor den Mund nimmt und keine Tabus kennt, sich einmischt, Politikern die Meinung geigt, gegen Populismus rebelliert, freimütig über ihr Leben und ihre auch nicht im Alter nachlassende Lust an der Sexualität spricht, ihre persönlichen Niederlagen und ihre schweren Krankheiten nicht ausspart. Als Ruhrpott-Metzgersgattin Else Stratmann hat sie unerschrocken dem Volk aufs Maul geschaut und sich um Kopf und Kragen gequasselt. In ihrer Literatursendung "Lesen!" hat sie mit großer Leidenschaft Bücher empfohlen oder sie voller Zorn vernichtet, bis sie dem ZDF zu unbequem und gefeuert wurde.
Kein altersmildes Buch der streibaren Zeitgenossin Elke Heidenreich
Ihr Buch über das "Altern" ist ein lautes, freches Aufbegehren dagegen, die Alten abzuschreiben und für blöd zu verkaufen. Es ist auch keine larmoyante Klage über "Das Alter", sondern eine mitreißende und aberwitzige Nabelschau über das langsame aber unausweichliche "Altwerden": Wie es ist, plötzlich beim Blick in den Spiegel erschrocken festzustellen, dass man keine 50, sondern tatsächlich schon 80 ist, von einer Herzattacke fast dahin gerafft wurde und denkt: "Was macht das jetzt mit mir, das Alter? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur: ich stelle mich ihm, ich verleugne es nicht, ich versuche nicht jünger zu wirken, als ich bin. Und ich finde schon gar nicht, dass das Leben im Alter weniger wert ist."
Zwei Versionen eines Lebens
Ehrlich und offen lässt sie wichtige Erlebnisse Revue passieren, schreitet Stationen von der Kindheit und Jugend über das Erwachsenwerden und zum Alter ab und bietet - als Ouvertüre - zwei verschiedene Kurzversionen ihres Lebens an: eine schreckliche und eine fantastische. In einer Version wird sie von ihrer Mutter gehasst und geschlagen und früh aus der Wohnung geworfen; mit 23 wird der Kette-rauchenden, dem Alkohol zusprechenden und die Nächte durchdiskutierenden Elke Heidenreich ein Lungenflügel entfernt und gesagt, sie habe allenfalls noch fünf Jahre zu leben. Später kommen noch Krebs dazu, Herz- und Kreislaufprobleme.
Sie überlebt das alles, setzt mehrere Ehen in den Sand, überwirft sich mit ihren Arbeitgebern, wechselt ständig ihren Wohnort, kann nachts nicht mehr schlafen und denkt: "Wie lange geht das wohl noch so weiter?"
In der anderen Version entflieht sie aus ihrem verhassten Elternhaus in die Freiheit, stopft sich mit Bildung voll, macht ein Super-Abitur und aufregende TV-Sendungen, verdient gutes Geld und hat viel Spaß mit den Männern, ist seit einiger Zeit mit einem Musiker liiert, der 28 Jahre jünger ist als sie, und sie denkt: "Achtzig ist kein Problem, und wenn ich nachts wach liege, bin ich dankbar, für alles, für ein so langes Leben in einem demokratischen Land ohne Krieg."
Man muss nicht lange rätseln, welche Version Elke Heidenreich, die ein Ausbund an Lebensfreude und Lebensmut ist, wohl vorziehen würde. Also erzählt sie vom Glück des Lebens und den Freuden des Alterns, aber auch von Verfall und Krankheit und der Angst vor dem Tod. Und weil sie ständig liest und ein Leben ohne Literatur für sie nicht denkbar ist, ruft sie eine Vielzahl von Zeugen auf und klettert durch ein gigantisches Gerüst aus literarischen Zitaten.
Ein kunterbunter Strauß an literarischen Stimmen
Es ist ein kunterbunter Strauß an literarischen Stimmen: von Marguerite Duras und Elias Canetti bis zu Margriet de Moor und Julien Green, von Goethe und Tolstoi bis zu Friedrich Nietzsche und Gottfried Benn, von Mascha Kaléko und Joan Didion bis zu Samuel Beckett und Voltaire, von Kafka bis Brecht, von Dylan Thomas bis Natalia Ginzburg, auf jeder Seite mindestens ein Zitat, um Gedanken zu vertiefen, die Elke Heidenreich gerade umtreiben, immer hat sie ein lyrisches Raunen von Rilke zur Hand, eine philosophische Sentenz von Ludwig Wittgenstein, eine ironische Bemerkung von Schauspielerin Fanny Ardant oder eine ironische Song-Zeile von den Beatles.
Das Leben: keine Generalprobe für irgendetwas, was noch kommt
Sie denkt über Krankheiten nach, Abschiede und Neuanfänge, falsche Entscheidungen bittere Trennungen, private Irrwege: "All das hat mich gelehrt: das Leben ist eine Kette von Irrtümern, sind die zu Ende, ist alles zu Ende. Denn nach jedem Irrtum geht es immer weiter, es gibt immer Wege und Auswege. Und manchmal, auch das habe ich gelernt, muss man einfach alles loslassen und nichts tun", sondern einfach nur "liegen, atmen, aufstehen, weitergehen."
Elke Heidenreich ist dem Tod schon ein paarmal von der Schippe gesprungen: An das unausweichliche Ende denkt sie mit Gelassenheit und einem Gefühl der Dankbarkeit für ein erfülltes, glückliches Leben. Aber solange es irgend geht, will sie Spaß haben, ihren Gedanken freien Lauf lassen und aktiv am Leben teilnehmen. Sie weiß, dass Unglück, Stress und Armut alt machen, dass "Altern nichts für Feiglinge" ist und unser Leben "keine Generalprobe für irgendetwas ist, was noch kommt: Es IST schon die Sache selbst."
Sie weiß, weil sie sich bewusst gegen eine Mutterschaft entschieden hat, dass keine Kinder und keine Enkel an ihrem Sterbebett sitzen und an ihrem Grab weinen werden. Dafür aber braucht sie auf niemanden Rücksicht nehmen (höchstens auf ihren Hund, mit dem sie jeden Tag spazieren geht) und kann bis zum großen Finale Unruhe stiften, Lesen, Schreiben, Musik hören: "Lassen Sie bitte, niemals, unter keinen Umständen Ihre Seele baumeln", hüten Sie sich vor dem Ruhestand und dem Nichtstun, ruft sie uns zu und verweist auf den Philosophen Peter Sloterdijk, der sagte, "es sei dekadent, zu vergessen, das es ein Privileg ist, sich anstrengen zu dürfen".
"Natürlich tut der Rücken weg, werden die Augen schlechter, wackeln die Zähne", aber: "Das Bewusstsein altert ja nicht, nur der Körper. Und wenn ich geistig beweglich bleibe, kann ich damit ganz gut fertigwerden", meint sie und stimmt eine Hymne an auf Brechts "unwürdige Greisin", die im Alter, als der Mann tot und die Kinder aus dem Hause sind, beschließt, ein neues Leben zu führen und sich noch einmal zu verlieben.
Einheizerin in der Hölle
"Ich bin keine nette Alte", sagt sie, gibt aber auch zu, dass ihr vieles, worüber sie sich früher aufgeregt hat, heute "einfach am Arsch vorbei" geht, dass sie keine Lust hat auf politische Korrektheit und das Gejammer der "Letzten Generation" nicht erträgt. Dem Tod möchte sie gelassen ins Auge sehen, Beerdigungsrituale sind ihr ein Graus. Den Gedanken, als ewig Unfriedliche in einem "Friedwald" vergraben zu werden, findet sie verlockend. Und in einer Todesanzeige malt sie sich aus, wie sie all die ängstlichen, mittelmäßigen und anspruchslosen Zeitgenossen anblafft: "Ich bin tot, aber ihr seid es auch, jetzt schon, ihr habt mich alle miteinander enttäuscht und entsetzt und angewidert, fahrt zur Hölle, ich geh schon mal vor und heize da für euch ein."
Frank Dietschreit, radio3