Erinnerungen einer Tochter - Natasha Trethewey: "Memorial Drive"
Vier Jahre hat es gedauert, bis das Memoir der amerikanischen Lyrikerin Natasha Trethewey ins Deutsche übersetzt wurde - und auch dann ist es nur als Taschenbuch erschienen. Dabei ist es ein wichtiges und eindrucksvolles Buch, das Themenkomplexe behandelt, die uns immens beschäftigen: rassistische Zuschreibungen, Gewalt gegen Frauen, familiäre Prägungen.
Gelandet ist dieses Buch, unter weitgehender Unterschätzung seiner Bedeutung, in einer Schublade, die in der Hierarchie der Literatur ziemlich weit unten verortet ist: Als Paperback mit dem Untertitel "Erinnerungen einer Tochter".
Dabei ist die Autorin eine in den USA hochgeschätzte Lyrikerin, Pulitzer-Preisträgerin und Poet Laureate der USA.
Sprachliche Hallräume
Natasha Trethewey beherrscht die Kunst jenes kondensierten Schreibens, in der Worte nicht einfach eine Handlung benennen, sondern Hallräume eröffnen, in denen nachklingt, was die Lesenden selbst kennen und er-kennen: Familiäre Zuneigung, Verwirrung, Gewalt, Angst, Liebe, Verlust, Verdrängung. Und Schmerz.
Das Buch ist eine Hommage an Tretheweys Mutter, die 1985 von ihrem zweiten Ehemann, einem Vietnam-Veteranen, ermordet wurde. Die Tochter war damals 19 Jahre alt. Im Text gehen starke Gefühle einher mit einer Reflektiertheit, die das Geschehen immer wieder in Beziehung setzt zur großen Geschichte, zur eigenen psychischen Verfasstheit, zum eigenen Schreiben, und zum großen Thema Rassismus.
Schwarzes Kind, weißes Kind
Natasha Trethewey wurde 1966 in Mississippi als Tochter eines weißen Vaters und einer Schwarzen Mutter geboren. Die Eltern mussten über die Grenze in den Nachbarstaat fahren, um heiraten zu können. Trethewey erinnert in scharf konturierten Bildern an diesen Südstaatenalltag der Schwarzen Großfamilie, über die Erfahrung, wie anders ihr Menschen begegneten, wenn sie allein mit dem Vater unterwegs war. Und wie es war, verbarrikadiert im Haus, als der KuKluxKlan im Vorgarten ein Kreuz brennen ließ.
Nach der Trennung der Eltern wird die Verbindung zur Mutter, die studiertund mit ihr in die Großstadt zieht, noch enger als zuvor – bis der Stiefvater auftritt, der das fremde Kind schikaniert und seiner Frau den beruflichen Aufstieg neidet. Die erträgt ihn und seine Gewaltausbrüche lange, denn sie haben ein weiteres gemeinsames Kind, doch dann verlässt sie ihn. Und er macht nach jahrelangem Terror schließlich seine Drohungen wahr.
Fakten und Verdrängung
Erinnerungen sind ja ihrem Wesen nach Fragmente – wie Pfützen, die nach einem Regen zurückbleiben, wie das Wenige an Wahrheit, das dem Menschen erträglich ist. Solche Fragmente, überscharf und frisch erhalten, teilt die Dichterin Treshewey mit; und sie fügt auch hinzu, was in der Erinnerung wohlweislich nicht erhalten ist. Das kann man nachlesen in einem nachgelassenen Bericht ihrer Mutter über die Gewaltgeschichte ihrer Ehe und die Schritte, die sie zu ihrer Befreiung daraus unternahm. Und in einer Abschrift von Telefongesprächen zwischen der Mutter und ihrem Mörder, die sich liest wie das grauenhafte Protokoll eines geplanten Femizids.
Trethewey zeigt auch, welcher Prozess der Vergegenwärtigung in diesem Buch steckt: Nach jahrelangem Verdrängen das Gewahrwerden des Schmerzes, und schließlich, mit der Arbeit am Text, seine ganze Wucht, mit Details, die einem den Atem stocken lassen, in Worten jenseits aller Sentimentalität.
Dies ist ein großes Buch, emotional, reflektiert und, ja, auch schön. Unwahrscheinlich schön.
Katharina Döbler, radio3