Erzählungen - László Krasznahorkai: "Im Wahn der Anderen"
Der ungarische Auor László Krasznahorkai ist schon lange kein Geheimtipp mehr. Er hat zahlreiche Preise erhalten und ist immer wieder für Überraschungen gut. Vor einem Jahr erschien sein enorm witziger Roman "Herscht 07769" über Rechtsradikale in einer thüringischen Kleinstadt. Jetzt gibt es einen Band mit Erzählungen von Krasznahorkai: "Im Wahn der Anderen".
Ursprünglich haben diese drei Erzählungen nicht direkt miteinander zu tun. Sie erschienen 2010, 2018 und 2019. Verbunden sind sie aber nicht nur deshalb, weil sie alle im unverkennbaren, atemlosen Sprachduktus von László Krasznahorkai gehalten sind. Er lässt die Gedanken so rasch auseinander hervorgehen, dass es kaum einmal einen Punkt gibt und keine Möglichkeit, zwischendurch Luft zu holen.
Wahn, Wahrheit und Wirklichkeit
Auch inhaltlich sind die Erzählungen miteinander verknüpft und bilden zusammen ein Triptychon, das der Buchtitel "Im Wahn der Anderen" präzise thematisiert. Wahnhaft sind diese Monologen von Besessenen zweifellos, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht zugleich sehr viel Wahrheit und Einsicht zutage fördern würden. Dieser Grenzbereich zwischen Wahn, Wahrheit und Wirklichkeit ist es, für den László Krasznahorkai sich interessiert.
In der ersten Erzählung mit dem Titel "Animalinside" spricht ein Hund oder vielmehr die entfesselte Kreatur. Dem "Herrchen", das da gelegentlich direkt angesprochen wird, droht dieses Wesen die Ohren abzureißen, die Nase abzubeißen, die Augen auszukratzen und den Kopf zu zerfleischen. Dieses Tier will den Menschen neben, über sich nicht länger dulden und ist zum Äußersten bereit. Es ist die Wutrede des Tieres gegen den Menschen, gegen den aus Sicht der Natur genug einzuwenden ist.
Die dritte, abschließende Erzählung liest sich dazu spiegelbildlich, spricht hier doch ein Mann, der sich von einer Horde von Mördern verfolgt fühlt, die ihn, wenn sie ihn eines Tages endlich erwischen, aufschlitzen oder mit einer Drahtschlinge erwürgen werden. Ob es die Verfolger wirklich gibt, ist nicht die Frage, weil der Wahn seine eigene Wirklichkeit produziert, die diesen Mann auf eine fortgesetzte Flucht zwingt und ihn Strategien des Verschwindens entwickeln lässt. Dazu gehört, so unauffällig zu sein, dass auch die Unauffälligkeit nicht auffällt, nicht das Erwartbare zu tun, aber auch nicht das Unerwartete. Die Bewegung, die sich daraus ergibt, führt ihn die kroatische Adriaküste hinab, von Pula über Zadar auf die Insel Korčula und weiter auf die sagenumwobene Insel Mljet. Hier soll einst Kalypso gewohnt haben, die Odysseus auf seiner Irrfahrt bei sich aufnahm. So wird aus dieser Geschichte mit dem Titel "Richtung Homer" eine moderne Odyssee, in der die Angst die Bewegungsenergie liefert.
Zeichnungen und Soundtrack inklusive
Die beiden rahmenden Erzählungen sind in Zusammenarbeit mit dem Maler Max Neumann entstanden, der Zeichnungen gemacht hat, die auch für sich stehen könnten in ihrem Versuch, die inneren Zustände der Bedrohlichkeit ins Bild zu setzen. Außerdem bietet die Annäherung an Homer über QR-Codes noch einen Soundtrack: Soli des ungarischen Jazz-Schlagzeugers Miklós Szilveszter, die den Rhythmus der Flucht grundieren.
Zentral ist jedoch der mittlere, knapp hundertseitige Monolog mit dem Titel "Kleinstarbeit für einen Palast". Hier spricht ein New Yorker Bibliothekar, dessen Traum eine verschlossene Bibliothek wäre, in der Bücher nicht verliehen, sondern verborgen werden. Weil er Herman Melvill heißt (nur das letzte e fehlt ihm), wurde er schon in der Schule mit der Frage gehänselt, wo er denn seinen Wal gelassen habe. Melville aber lässt ihn nicht los. Er folgt den Spuren des Dichters in Manhattan, schreitet rituell die Wege ab, die auch Melville gegangen ist, um sich so in ihn hineinzuversetzen.
Mit Melville verknüpft er den englischen Dichter Malcolm Lowry und den amerikanischen Architekten Lebbeus Woods, der sich auf Zeichnungen von Gebäuden kurz vor dem Zerfall spezialisiert hat und damit Vergänglichkeit als einen endlosen Prozess von Werden und Vergehen thematisierte. Auch Béla Bartók, der in New York starb, spielt eine Rolle.
Überraschender Witz und kongeniale Übersetzung
Mit diesen Vorbildern aus Literatur, Kunst und Musik befasst, fragt der manische Erzähler nach der Wahrheit der Kunst, nach dem Ort des Menschen in der Welt, nach dem Wesen des Seins. Es sind die großen philosophischen Fragen, die hier erörtert werden, auch wenn der Erzähler darin verloren geht, weil er den Bezug zu den Alltagsnotwendigkeiten verliert, von seiner Frau verlassen und in der Bibliothek degradiert wird, weil er seinen Pflichten nicht mehr nachkommt. Doch genau aus dieser Diskrepanz zwischen dem Wahn des Sprechens und den Einsichten, die damit zu Tage gefördert werden, besteht der Reiz dieser Erzählung und überhaupt der überraschende Witz des irrlichternden, großartigen Autors László Krasznahorkai, der in Heike Flemming eine kongeniale Übersetzerin hat.
Jörg Magenau, rbbKultur