Ian Bostridge: "Das Lied & das Ich" © C.H.Beck
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Drei Essays - Ian Bostridge: "Das Lied & das Ich"

Bewertung:

Der britische Tenor Ian Bostridge ist einer der gefeiertsten Sänger der Gegenwart, geschätzt vor allem als Liedinterpret. Aber er ist auch Autor. Nach seinem Buch über Schuberts Liederzyklus "Winterreise" hat er jetzt einen Band unter dem Titel "Das Lied & das Ich" verfasst.

Es sind schon ziemlich grundsätzliche Fragen, die Ian Bostridge aufwirft: Wenn man auftritt und singt – was singt man da wirklich? Eher orientiert an dem, was Textdichter und Komponisten möglicherweise gedacht und gewollt haben? Oder mehr das, was man selbst darin findet?

Da ist es im Schauspielbereich leichter, wo man zunehmend Texte als Materialsteinbruch verwendet. Im Liedgesang und in der Oper sind Komponisten immer noch ganz andere Autoritäten, die man nicht so leicht beiseite wischen kann.

Musikphilosophische Fragen

Insgesamt drei Essays enthält das Buch, entstanden ursprünglich für Vorlesungen von Ian Bostridge an der Universität von Chicago. Der erste beschäftigt sich mit Geschlechterfragen – seit Jahrhunderten in der Oper immer wieder Thema: von Kastraten bis Hosenrollen. Ian Bostridge nimmt sich vor allem aber den Liederzyklus "Frauenliebe und -leben" von Robert Schumann vor.

Das ist von der textlichen Vorlage eigentlich klar für Sängerinnen gedacht, allerdings nimmt Bostridge auch für sich in Anspruch, das als Mann singen zu können. "Das Werk gehört uns allen", so der Sänger, und er fordert, "die Zwangsjacke der gendernormativen Interpretation [zu] lockern und es uns [zu] erlauben, auf die ganze Vielfalt möglicher Welten zu reagieren."

Eine Frage der Perspektive

Noch viel komplexer ist die Situation, die Ian Bostridge am Beispiel der "Chansons madécasses" von Maurice Ravel beschreibt. Komponiert von einem Europäer, der nie auf Madagaskar war, und die Gedichte stammen "nicht von einem Madegassen, sondern von einem französischen Kolonialisten".

Darf man das singen, hat Ian Bostridge "das Recht, das zu tun"? Seine Antwort fällt erfreulich differenziert aus: "Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß, ist, dass die verborgene Geschichte dieses Werks unsere Reaktion darauf intensiviert und verkompliziert, wenn wir uns ihr widmen."

Keine einfachen Antworten

Ian Bostridge, und das ist die Stärke des Buches, stellt Fragen und problematisiert viele Aspekte. Er betont, dass sich viele Stücke "in neuem Licht zeigen, wenn man ihre Darstellung von Identität problematisiert und historisiert", und er sieht das sowohl als ein praktisches als auch als ein moralisches Thema.

Für dieses Buch sollte man sich Zeit nehmen, um sich in die vielschichtigen Fragestellungen hineindenken zu können. Dann aber ist es ein absoluter Gewinn und eine Lektüre auf höchstem Niveau.

Andreas Göbel, rbbKultur