Bitter, aber nötig - Angostura
Vor rund 200 Jahren von einem deutschen Arzt in Venezuela als Tonikum und Fiebermittel erfunden, ist der aromatische Bitterlikör aus Kräutern, Zitrusfrüchten und Gewürzen heute eine beliebte, fast unverzichtbare Zutat für Cocktails und Drinks. Nicht nur: sogar Fleisch- und Fischgerichte, Desserts und Obstsalaten profitieren von seiner einzigartigen, komplexen Geschmacksnote.
Enzianwurzel, Bitterorangenschalen, Zimt, Kardamom, Muskatblüte, Ingwer, Chinarinde, Tonkabohnensamen und mindestens 40 weiteren Inhaltstoffe gehören zum Angostura-Rezept, dessen genaue Zusammensetzung immer noch geheim gehalten wird. Zucker gehört dazu, und auch Alkohol: mit 44,7 % sogar mehr als bei den üblichen Likören.
Ursprünglich war der Likör ein Heilmittel: Der Erfinder, Johann Gottlieb Benjamin Siegert, war ein deutscher Arzt, der 1820 auf Wunsch des südamerikanischen Freiheitskämpfers Simón Bolívar Leiter des Militär-Hospitals in der damaligen venezolanischen Stadt Angostura (heute Ciudad Bolívar) wurde. Es waren vor allem europäische Matrosen, Söldner und Händler, die er gegen Malaria und tropische Magen- und Darmerkrankungen behandelte.
Edle Tropfen für Seeleute
Das hochprozentige Tonikum, das Dr. Siegert bald in einem eigens gegründeten Unternehmen produzierte, wurde rasch von See- und Kaufleuten in der ganzen Welt verbreitet, bei 12 Weltausstellungen mit Goldmedaillen ausgezeichnet und an allen europäischen Königshöfen eingeführt. In England machte ab 1870 "Pink Gin" Furore, der von Offizieren der Royal Navy eingeführte Cocktail aus dem Plymouth-Gin, Angostura und Zitronenschale.
Wegen politischer Unruhen wurde die Produktion Ende des 19. Jahrhunderts von Venezuela nach Trinidad verlegt. Hier sitzt die Firma noch heute, von den Rechtsnachfolgern des Gründers geführt. Und hier wird Angostura produziert und in über 100 Länder exportiert. Der Bitterlikör soll noch immer nach Siegerts geheim gehaltenem Originalrezept aus dem Jahr 1824 hergestellt werden, wobei das Konzert immer wieder darauf hinweist, dass keine "Angosturarinde" enthalten sei: Der Name leite sich lediglich vom Namen der Stadt ab, in der Siegert seine Erfindung gemacht habe.
Der Grund: Firmen, die das Produkt nachahmen, geben Angosturarinde als Zutat an. Auch das ursprüngliche übergroße Etikett, einem Druckereifehler geschuldet, zeichnet noch heute als Markenzeichen die kleine Flasche aus. Zum traditionellen Produkt sind unlängst zwei Varianten hinzugekommen: eine mit Orangengeschmack und eine mit Kakaoaroma.
Vom Medikament zum Würzmittel
Karriere hat Angostura aber nicht als Medizin, sondern als Würzmittel und zur Abstimmung von Cocktails gemacht. Er gehört zu den Zutaten, die sehr, sehr sparsam eingesetzt werden sollen. In der Welt der Mixologie gehören wenige Tropfen Angostura in Cocktail-Klassiker wie Old Fashioned, Manhattan, Mojito und Pisco Sour.
Angostura veredelt aber auch allerlei Speisen, die von einer edelbitteren Note profitieren: Barbecue-Saucen oder Marinaden für helles Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte, als säuerlich-fruchtige Note in Mayonnaise, in Sahnesaucen oder cremigen Gerichten wie Mascarpone-Risotto sowie auch als herbe Nuance in einer Bolognese. Butter kann mit etwas Angostura interessant aromatisiert werden, ebenso wie Rührei. Ein Paar Tropfen vollenden die Harmonie von Gorgonzola und Honig auf geröstetem Brot und runden den Geschmack von Auberginenpüree, Ofentomaten und gegrillten Paprikas ab.
Auch Desserts und Obstsalaten verleiht Angostura eine ungewöhnlich tiefe Geschmacksnote: ob in Puddingcreme, Schokoladensauce, Creme Caramel oder im Kuchenteig. Angostura enthält zwar Alkohol, aber er wird in geringfügigen Mengen eingesetzt. Sicherheitshalber kann er erhitzt werden, damit der meiste Alkohol verdampft und nur die Aromen übrig bleiben.
Elisabetta Gaddoni, radio3