Politthriller - "Im toten Winkel"
Schon mehrfach hat die deutsch-kurdische Regisseurin Ayşe Polat in der Türkei gedreht, sich dokumentarisch und fiktional mit den Traumata der Armenier und Kurden auseinandergesetzt. Bei der Berlinale vergangenes Jahr feierte ihr Spielfilm "Im toten Winkel" Premiere, den Berlinale-Chef Chatrian bereits im Vorfeld als Polats besten Film lobte. Nun kommt er in die Kinos.
Schon die Autofahrt hat etwas Bedrohliches. Der Wagen des Kamerateams rumpelt über Feldwege, durch verlassene Dörfer und Landschaften. Doch die deutsche Filmemacherin und ihr Kameramann kennen keine Angst, sie sind unterwegs in den Nordosten der Türkei, in das Grenzgebiet zwischen Georgien und Armenien. Hier wollen sie eine alte Frau besuchen, Hatice. Die kurdische Bäuerin zelebriert alljährlich ein Ritual: indem sie eine Suppe kocht, gedenkt sie an ihren vor Jahren verschwundenen Sohn.
Gefährliche Recherche
Bis heute sitzt Hatice einmal im Jahr vor ihrem großen Topf und wartet auf ihren Sohn. Der ging an einem schönen Herbsttag in die Stadt, um sich mit einem Freund zu treffen. Und kehrte nie zurück. Heute weiß sie, er wurde entführt. Verstanden hat sie nie, was geschehen ist. Die Suppe ist ihre Form des Widerstandes.
Gefunden hat das Filmteam Hatice über einen Menschenrechtsanwalt: Ihn zu treffen, gestaltet sich jedesmal sehr kompliziert, und irgendwann erscheint er gar nicht mehr.
Die Unerschrockenheit mit der die deutsche Filmemacherin Simone vor Ort recherchiert und filmt, wirkt da fast naiv. Sie begreift zu spät, dass sie alle, auch sich selbst und auch ihre Übersetzerin Leyla in Gefahr bringt.
Der Gefahr ausgeliefert
Leyla passt neben ihrem Job als Übersetzerin auf die Tochter ihres gut situierten Nachbarn Zafer auf. Im Auftrag eines staatlichen Sicherheitsdiensts verfolgt der mit unfassbarer Gewalt politisch Andersdenkende. Zuhause aber ist er seiner fünfjährigen Tochter Melek ein liebevoller Vater. Das Kind Melek ist in seiner Unschuld die stille Seherin der Geschichte. Schützen aber kann sie ihren Vater auch nicht.
Immer wieder brummt Zafers Handy. Immer wieder bekommt er Nachrichten, die ihn in intimen, ungeschützten Situationen zeigen: mitten in der Nacht mit seiner verschlafenen Tochter auf dem Schoß. Ist es sonst Zafer, der andere fertigmacht – jetzt scheint er dran zu seien. Wenn er dann in Panik ins Nachbarhaus rennt, um den unsichtbaren Beobachter herauszufordern, bleibt er allein der Dunkelheit ausgeliefert und seine Rufe verhallen im Nichts.
Politthriller mit großem Sog
Alles hängt hier mit allem zusammen. Es sind diverse Biografien, deren Wege sich kreuzen, ohne dass sie voneinander wissen. Regisseurin Ayşe Polat, die auch das Drehbuch zu "Im toten Winkel" schrieb, geht es um die Opfer und um die Täter: die, die ihr eigenes Überleben sichern wollen, egal wie. Und die anderen, die unfreiwillig politisiert wurden wie Hatice, oder die, die gegen das gesellschaftliche Schweigen ankämpfen um nicht zu ersticken wie der Anwalt. Sie alle tragen schwer, sind schwer traumatisiert. Und sie alle werden permanent überwacht.
Der Blick der anderen, der Blick durch die Kamera in seinen unterschiedlichen Facetten, ist das verbindende Element der drei Kapitel, in die sich dieser Film unterteilt. Präzise und intelligent gebaut und nachhaltig verstörend, entwickelt dieser Politthriller einen großen Sog. Doch egal von wo man guckt – es bleibt immer ein toter Winkel.
Christine Deggau, rbbKultur