Tugan Sokhiev © Marco borggreve
Marco borggreve
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Philharmonie Berlin - Tugan Sokhiev dirigiert die Berliner Philharmoniker

Bewertung:

Tugan Sokhiev ist in Berlin noch in sehr guter Erinnerung aus der Zeit, als er Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin war. Jetzt gastierte er bei den Berliner Philharmonikern. Am Beginn ein kurzes Orchesterstück von Lili Boulanger: "D’un matin de printemps".

Eine wirkliche Entdeckung ist das Stück nicht mehr – gerade vor zehn Monaten hatte das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin das auf sein Programm gesetzt. Aber man hört es gern, zumal der Titel "Von einem Frühlingsmorgen" ein herrlicher Kontrast zum aktuellen Winterwetter mit Schneetreiben war.

Und es war eine Freude, wie Tugan Sokhiev mit den Berliner Philharmonikern diese Musik so verfeinert und raffiniert, gewissermaßen auf Zehenspitzen umgesetzt hat. Da ist die Sonne herausgekommen, ohne dass es sentimental wurde. In nur fünf Minuten eine ganze Welt herbeizuzaubern, das ist hier aufs Schönste gelungen.

Glänzende Fassade

"Threadsuns" nennt der südkoreanische Komponist Donghoon Shin sein neues Bratschenkonzert, das an diesem Abend zur Uraufführung gelangte. Der Titel ist die englische Übersetzung des Gedichttitels „Fadensonnen“ von Paul Celan, das ihm Anregung dafür gegeben hat. Man fühlt sich hier an alles Mögliche erinnert: ein bisschen Bartók (Bratschenkonzert!), etwas Mahlers Fragment der Zehnten, auch ein Walzer, es ist ja schließlich Johann-Strauß-Jahr, und so ein bisschen klang es, als hätte Alban Berg nicht nur ein Violinkonzert, sondern auch ein Bratschenkonzert komponiert.

Viele Stilkopien, aber wo blieb das Eigene in diesem Werk? Mal ein schrilles Aufflackern in den Bläsern, ein bisschen Ungeheuer in der Tuba, alles ganz geschickt gesetzt, aber leider auch ziemlich kuschelkitschig überzuckert. Da ist nichts, was man nicht schon woanders gehört hätte. Eine effektvoll glänzende Fassade, dahinter aber ein klingendes Nichts.

Großartiger Solist

Solist in diesem neuen Werk war der Erste Solobratscher der Berliner Philharmoniker Amihai Grosz. Er ist ein phantastischer Musiker, auch gerade als Solist, mit warmem Klang seines Instruments, vor allem aber mit einem erzählerischen Ton, wenn er seine endlos langen Melodiebögen spielt. Man hört ihm zu und gewinnt eine schier unendliche Fülle an Klangfarben. Er spielt mit scheinbarer Mühelosigkeit, technisch hat er ohnehin keine Grenzen.

Wenn man an diesem Konzert halbwegs drangeblieben ist, dann seinetwegen und wegen seiner großen Interpretationskunst. Dieser Musiker versteht es, aus Stroh Gold zu spinnen. Und man wünscht sich, ihn ganz bald wieder als Solist mit seinem Orchester zu hören, dann aber doch bitte mit einem guten Stück.

Oft gehört

Dass Gustav Mahlers Erste Sinfonie so häufig auf den Konzertprogrammen erscheint, ist kein Zufall. Das war schon eine Revolution in diesem sinfonischen Erstling – der impressionistische Beginn, die Fülle an Motiven und Zitaten, auch aus eigenen Liedern, Trauermärsche gegen Volksfeststimmung und ein Triumph, der immer wieder gegen Abstürze ankämpfen muss.

Schon hier ist eine ganze Welt in einem Werk zu finden, allerdings ist das oft allzu verführerisch – zu oft hört man es nur vordergründig.

So selten gehört

Tugan Sokhiev hat eines bei Mahler verstanden: Alle diese Elemente muss man ernst nehmen und ordnen. Effekt um ihrer selbst willen zerstört Mahlers Musik. Und Sokhiev zeigt, wie es geht: Da entwickelt sich am Beginn Form aus einer Urmaterie. Liebevoll und zugewandt nimmt er die Motive, putzt sie blank, kitzelt jedes Funkeln und Pfeifen aus dem Orchester heraus. Mit phantasievollsten Handbewegungen zieht er den Sinn der Klänge gefühlt aus jedem Resonanzboden oder Schalltrichter.

Die Emotionen ergeben sich so wie von selbst. Sokhiev nimmt sich die Zeit, das alles auszukosten. Die Tragik hat einen Furor, der einen Feuerschweif hinter sich herzieht. Und der Jubel am Schluss ist kein oberflächlicher Radau, sondern hart errungene Schönheit. Selten hat man dieses Werk so schlüssig, klar und verständlich gehört.

Fest der Soli

Die Berliner Philharmonikern hatten spürbar ihre Freude an dieser Interpretation. Besonders der langsame Satz war ein Fest der Soli, vom Kontrabass solo bis zu den Bläsern. Tugan Sokhiev hat allen hier ganzes Vertrauen geschenkt, sehr wenig dirigiert und sie frei gestalten, das Orchester zu sich selbst finden lassen, wenig vorgegeben, sondern auch zugelassen.

Dass sich das auf das Publikum übertragen hat, verwundert nicht, wenn in dieser Erkältungszeit bemerkenswert wenig gehustet wurde … Der Jubel und die stehenden Ovationen am Ende waren jedenfalls absolut verdient.

Andreas Göbel, radio3