Philharmonie Berlin - Die Berliner Philharmoniker unter Yannick Nézet-Séguin
Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin ist regelmäßiger Gast bei den Berliner Philharmonikern. Für sein aktuelles Programm hat er sich die monumentale 7. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch ausgesucht. Daneben gab die italienische Pianistin Beatrice Rana ihr Debüt bei den Philharmonikern mit dem Klavierkonzert von Clara Schumann.
Ihr Klavierkonzert hat Clara Schumann mit 14 komponiert. Komplett auf Wunderkind getrimmt, gehörte auch die Komposition einen Solokonzerts mit Orchester dazu. Allerdings zeigt sich hier bereits, dass sich Clara Schumann von dem üblichen Virtuosengeklingel à la Hummel, Kalkbrenner oder Herz deutlich absetzt.
Das ist technisch teilweise brutal schwer, da muss man die Finger gut trainiert haben, Clara Schumann hatte entsprechend auch selbst höchsttrainierte weitgriffige Hände, die einen bis heute vor Herausforderungen stellen. Aber dieses Konzert zeigt auch eine ganz andere Seite und ist in seinen schönsten Momenten eine wahre Seelenmassage.
Tiger mit Solocello
Beatrice Rana kann das technisch locker spielen. Bei ihren Tigerpfoten geht man besser in Deckung, um nicht die Krallen abzubekommen. Sie ist eine phantastische Pianistin und zeigt das auch in beeindruckender Weise. Allerdings gibt es eben auch diese andere Seite dieser Musik, voller Zwischentöne, bei denen der Tiger, aufgefordert, durch den brennenden Reifen zu springen, einfach "nein" sagt.
Da findet sich das Soloklavier mit dem Solocello im langsamen Satz zusammen, das ist Kammermusik mitten auf der großen Bühne. Was für eine grandiose Idee der 14-Jährigen, die sich hier der Virtuosenanforderung komplett verweigert. Welche Persönlichkeit! Man fragt sich nur, warum Beatrice Rana über diese Aspekte so sehr hinwegspielt.
Janus-Kopf
Die siebte Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch. Ein Werk, das allein durch den Hintergrund der Entstehung verständlich ist, wenn man es überhaupt verstehen kann. Komponiert während der Belagerung von Leningrad, ist es auf der offiziellen Seite ein Symbol im Kampf gegen die Nazi-Truppen.
Aber Schostakowitsch musste da schon längst unter den Repressalien des Stalinismus komponieren. Das jubelt am Ende, aber dieser Jubel ist, wie eigentlich immer bei Schostakowitsch, janusköpfig angelegt.
Keine Interpretation
Bei Yannick Nézet-Séguin hört man fast 80 Minuten lang – keine Deutung, keinen eigenen Ansatz. Dort, wo Schostakowitsch ein Motiv in die Gehörgänge hämmert und man nicht weiß, ob es aus Hitlers Lieblingsoperette "Die lustige Witwe" oder aus seiner eigenen Oper "Lady Macbeth von Mzensk" stammt, durch die der Komponist bei Stalin in Ungnade gefallen ist, läuft die Musik ab.
Natürlich funktioniert das auch so, dazu ist die Musik zu intensiv. Aber es wirkt so dermaßen blankgeputzt wie die Waschmittel-Werbung von vor Jahrzehnten, wo man saubere Wäsche auf den kilometerlangen Leinen sieht.
Porentief rein
Da ist alles porentief rein. Und natürlich gibt es keine Verpflichtung, Musik auf eine bestimmte Weise zu problematisieren, selbst wenn es das Werk nahelegt. Aber wie sehr man gerade an dieser Musik auf höchstem Niveau vorbeispielen kann, verwundert doch.
Die Philharmoniker haben einen brillanten Abend geboren, nur Yannick Nézet-Séguin hätte sich ein anderes Stück aussuchen müssen …
Andreas Göbel, radio3