Historischer Roman - Michael Köhlmeier: "Das Philosophenschiff"
Michael Köhlmeier hat einen guten Ruf als Schriftsteller. Aber auch einen etwas windigen. Er ist dafür bekannt, bei Bedarf Dinge zu erfinden und zu behaupten, sie seien wahr. Immer wieder gelingt es ihm, seine Leser damit hinters Licht zu führen. Das jedenfalls behauptet die hundert Jahre alte Architektin Anouk Perleman-Jacob, 1908 in Sankt Petersburg geboren.
Wir befinden uns an ihrem Geburtstag also im Jahr 2008. Zum Fest hat die resolute alte Dame den Schriftsteller Michael Köhlmeier eingeladen, um ihm die außergewöhnliche Geschichte ihrer Kindheit zu erzählen, damit er sie aufschreibe. Sie will genau so einen windigen Typen wie ihn. Der Autor Köhlmeier legt großen Wert darauf, die Köhlmeier-Figur im Buch so echt als nur möglich zu gestalten. Und doch hat es diese Begegnung nie gegeben, da Anouk Perleman-Jacob seine Erfindung ist. Mit ihrer Erzählung geraten wir tief hinein in die russische Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts.
Eine Art Geister- oder Totenschiff auf dem Weg ins Nirgendwo
Fast alles darin lässt sich nachprüfen; fast alle Figuren und Ereignisse sind historisch verbürgt, so auch das titelgebende "Philosophenschiff“. Tatsächlich waren das mehrere Schiffe, mit denen die Bolschewiki im Herbst 1922 missliebige Intellektuelle außer Landes bringen ließen. Die Aktion wurde auf Anordnung Lenins durchgeführt, Trotzki soll sie – und auch das ist bei Köhlmeier nachzulesen – als Akt der Humanität bezeichnet haben: Ansonsten wäre man ja gezwungen gewesen, die Betroffenen zu erschießen.
Zwei Schiffe sind nachweisbar, ein drittes, ein Luxusdampfer mit nur sehr wenigen Fahrgästen in der immer noch recht komfortablen dritten Klasse, erfindet Köhlmeier einfach dazu, um dort all seine fiktiven Gestalten unterzubringen, so auch die zu diesem Zeitpunkt vierzehnjährige Erzählerin. Es ist eine Art Geister- oder Totenschiff auf dem Weg ins Nirgendwo. Fiktion ist es auch, dass nach fünf Tagen, die das Schiff ohne Fahrt auf dem Finnischen Meerbusen treibt, ein zusätzlicher Passagier an Bord gebracht wird: Es ist der nach mehreren Schlaganfällen halbseitig gelähmte Lenin, der im Rollstuhl sitzt und Jack Londons "Ruf der Wildnis“ liest. Man darf das verraten, weil es schon im Klappentext verraten wird.
Paranoide Grundstruktur der Epoche
Was sich dort auf dem Schiff abspielt, ist eine Ebene der Geschichte. Vor allem aber erzählt Anouk Perleman-Jacob, warum sie mit ihren Eltern überhaupt zu denen gehörten, die die Bolschewiki aus dem Land entfernen wollten. Diese Vorgeschichte führt nach Paris im Jahr 1908 ins Milieu der russischen Migranten, zu denen der Vater, ein Professor für Architektur und die Mutter, eine Ornithologin ebenso gehörten wie die schon eher verdächtigen Freunde und Bekannten: der Sozialrevolutionär Boris Sawinkow und der Lyriker Nikolai Stepanowitsch Gumiljow, der, wie sich herausstellt, von den Bolschewiki erschossen wurde.
Auch die Lenin-Attentäterin Fanny Kaplan und Leonid Kannegießer, der den Petersburger Tscheka-Chef Moissei Urizki ermordete, spielen eine Rolle. Deren reale Geschichte wird im Roman ausgebreitet und kunstvoll mit der fiktiven Familie der Erzählerin verbunden. Man lernt dabei viel, muss aber an jeder Stelle aufpassen und nachfragen, um sich von Köhlmeier (dem echten) nicht hinters Licht führen zu lassen. Die Lage wird dadurch noch unübersichtlicher, weil, wie sich herausstellt, auch Anouk Perleman-Jacob gelegentlich schwindelt, weil sie "Die Wahrheit ein bisschen von sich weg“ erfinden möchte. Deutlich wird die paranoide Grundstruktur der Epoche, in der alles und jeder verdächtig sind. Das erinnert an Eugen Ruges „Metropol“ oder an Julian Barnes Schostakowitsch-Roman "Der Lärm der Zeit“, in der Schilderung des revolutionären Durcheinanders aber auch an Natascha Wodins "Sie kam aus Mariupol“.
Vertrackter historischer Roman mit phantastischen Abwegen
Am Ende betont Köhlmeier noch einmal, wer er ist: "der, dem man glaubt, wenn er lügt und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“ Dieses Verfahren hat er bereits in seinem Roman "Zwei Herren am Strand“ (2014) erprobt, wo er Winston Churchill und Charlie Chaplin zusammenbrachte. Jetzt hat er es perfektioniert.
"Das Philosophenschiff“ ist ein vertrackter historischer Roman mit phantastischen Abwegen. Die Freude des Autors daran, sich die Geschichten zurechtzulegen und zurechtzumachen, ist jederzeit spürbar. "Erzählen ist wie eine Revolution machen“, lässt er seine Heldin sagen. Denn so wie die Revolution macht auch das Erzählen alles neu.
Jörg Magenau, rbbKultur