Roman - Gerbrand Bakker: "Der Sohn des Friseurs"
Als am 27. März 1977 eine Boeing der KLM beim Start auf Teneriffa mit einer Maschine der Pan Am zusammenstieß, kamen 583 Menschen ums Leben. Es ist bis heute eine der schlimmsten Katastrophen der zivilen Luftfahrt. Sie hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der Niederlande eingebrannt, doch merkwürdigerweise hat noch kein niederländischer Autor je darüber geschrieben. Das zumindest behauptet ein Schriftsteller, der im neuen Roman von Gerbrand Bakker nun genau das tun will. Wenn es stimmt, was er sagt, dann wäre "Der Sohn des Friseurs“ tatsächlich der erste Roman über dieses verheerende Unglück.
In Liebesangelegenheiten seltsam verhalten
Im Mittelpunkt steht Simon, schwul, Anfang vierzig, dessen Vater bei dem Unglück starb, ohne je identifiziert worden zu sein. Simon kam erst sechs Monate danach zur Welt, hat den Vater also nie kennengelernt. Den Friseurberuf und seinen kleinen Salon hat er von ihm und vom Großvater übernommen, übt ihn allerdings eher leidenschaftslos aus. Auch in Liebesangelegenheiten ist er seltsam verhalten. Verwundert nimmt er den Rothaarigen zur Kenntnis, der eine Nacht in seinem Bett verbringt. Doch als er seiner Mutter dabei hilft, eine Gruppe von geistig behinderten Jugendlichen beim Schwimmen zu beaufsichtigen, fasziniert ihn der körperlich attraktive Igor, der kein Wort sprechen kann und nicht zu erkennen gibt, was er von seiner Umwelt überhaupt wahrnimmt.
Rätselhafte Vatersuche
Das seltsame Verhältnis zwischen den beiden und die verstörende Geschichte einer Verführung ist eine Ebene des Romans. Die zweite, wichtigere, ist die Vatersuche, die Simon beginnt, als einer seiner Kunden über Flugzeugabstürze spricht und der Schriftsteller – ein zweiter Stammgast im Salon – die Geschichte des Vaters aufschreiben möchte. Mit Online-Recherchen erfährt Simon immer mehr darüber und fragt sich, wer sein Vater eigentlich war. Wie sich herausstellt, war auch der damalige Praktikant des Salons in der Unglücksmaschine, und es bleibt rätselhaft, warum der Vater einfach so in den Urlaub flog, ohne seiner schwangeren Frau etwas davon zu verraten.
Riskanter Perspektivwechsel
Bakker verbindet geschickt das persönliche Schicksal seiner Romanfiguren mit der realen Geschichte. Dass Geschichte etwas ist, was sich aus vielen kleinen Zufällen ergibt und dass sich in jedem Augenblick viele Möglichkeiten öffnen, von denen immer nur eine sich realisiert, ist ein Prinzip, das für die kleine Privatgeschichte ebenso gilt wie für die große Historie. Minutiös rekapituliert Bakker der Hergang des Unglücks, das bis zum verfrühten Start der KLM-Maschine jederzeit zu verhindern gewesen wäre. Zugleich öffnet der Schriftsteller im Roman den Möglichkeitsbereich, der ja der bevorzugte Ort der Literatur ist. Was wäre, wenn Simons Vater gar nicht im Flugzeug gewesen wäre? Welches Leben hätte er haben können? Und warum flog er an diesem Tag zusammen mit dem Praktikanten nach Teneriffa? Es ist riskant, wenn Bakker nach hundert Seiten im zweiten Teil des Buches von der Geschichte des Sohnes zu der des Vaters übergeht. Der Perspektivwechsel könnte leicht zum Bruch werden. Doch Bakker meistert auch diese Klippe; die Vatergeschichte ist als mögliche Erzfindung der Schriftsteller-Figur ja auch plausibel eingeführt.
Melancholische Grundstimmung
Offen bleibt, wer nun eigentlich der Sohn des Friseurs ist. Söhne eines Friseurs sind sie ja beide. Offen bleibt auch, welche Rolle die Vaterlosigkeit für Simon spielte, und was es ihm hilft, mehr über die Katastrophe zu wissen. Wichtiger dürfte ihm der Großvater sein, mit dem er darüber besser reden kann als mit seiner Mutter, die über das plötzliche Verschwinden ihres Mannes nie hinweggekommen ist. Bakkers "Der Sohn des Friseurs“ lebt von der Fülle der Details, von atmosphärisch dichten Beschreibungen, von einer melancholischen Grundstimmung. Vor allem aber besticht er dadurch, dass die Frage nach dem richtigen Lebensentwurf so unauffällig wie schonungslos über mehrere Generationen und Lebensphasen hinweg durchgespielt wird. Eine Antwort darauf kann es nicht geben. Bakker begnügt sich damit zu erzählen, wie die Zeit und mit ihr die Menschenleben vergehen. Da spiegelt sich eins im anderen – und Spiegel gibt es in einem Friseursalon mehr als genug.
Jörg Magenau, rbbKultur