Roman - Sigrid Nunez: "Die Verletzlichen"
In den Büchern von Sigrid Nunez geht es immer wieder um tiefe Freundschaften und zärtliche Fürsorge. Auch die Stadt New York und die Beziehung zu Tieren spielen eine nicht unwichtige Rolle. Diesmal ist es der Papagei einer Freundin, um deren Wohnung sich die Protagonistin kümmert. In der Wohnung lebt ein junger Mann, der vor den Erwartungen seiner Familie in eben dieser Wohnung Zuflucht sucht. Ein interessantes Beziehungsgeflecht - mit viel Innigkeit, Humor und Reflektion über das Schreiben.
Auch Plaudern ist eine Kunst. Sigrid Nunez beherrscht sie wie keine zweite. Sie ist die Königin eines Plaudertons, der auch schwere Themen leicht machen kann. In ihren Büchern ist sie sehr nah bei sich. Ihre Ich-Erzählerinnen sind vorzugsweise Schriftstellerinnen oder Dozentinnen für Literatur wie sie selbst. So kann ihr neuer Roman "Die Verletzlichen" ohne weiteres mit einer Reflexion über erste Sätze und das Wetter beginnen, indem sie zunächst einmal Virginia Woolf zitiert: "Es war ein launischer Frühling."
Nunez erzählt von fünf Freundinnen in New York im Coronajahr 2020 - und von einem Papagei
Wenn Sigrid Nunez schreibt, ist das, was dabei entsteht, immer in ihre Lektüren eingebunden. Man wähnt sich eher in einer Poetikvorlesung oder einem Schreibseminar als in einem Roman. Die Handlung ist nicht so wichtig und nimmt sich Zeit, und so dauert es rund 60 Seiten, bis aus den Gesprächen, Plaudereien und den Geschichten, die sich ein paar Freundinnen in New York im Coronajahr 2020 gegenseitig erzählen, ein zentrales Geschehen herauskristallisiert.
Eine von ihnen, hochschwanger, sitzt in Kalifornien fest und muss dort ihr Kind zur Welt bringen, während in der riesigen Wohnung in Manhattan ihr Papagei sehr dringend Gesellschaft braucht. Also zieht die Erzählerin in diese schöne Wohnung und freundet sich mit dem intelligenten Tier an, das miauen und sehr entspannt "Omm" sagen kann.
Weniger ein Roman als eine Fundgrube für alles Mögliche
Nunez Erfolgsroman "Der Freund", in dem die Protagonistin die Dogge eines befreundeten Professors übernahm, der Suizid begangen hatte, mag dafür Modell gestanden haben. "Einem Tier zu begegnen ist wie eine Frischzellenkur", zitiert Nunez aus einem Dokumentarfilm. "Es öffnet eine Tür zur anderen Seite. Dem nicht Mitteilbaren."
Also folgt auf den Papagei die Geschichte von einem Mann, der sich mit einem Oktopus-Weibchen anfreundete und dabei lernte, wie verletzlich die Tiere und unser aller Leben ist und wieviel Sanftheit in der Natur steckt. Der Titel "Die Verletzlichen" bezieht sich also auf das Leben selbst, auf alles, was existiert und Schutz und Liebe braucht.
Das klingt vielleicht ein wenig sentimental, ist es aber im unerschrockenen, neugierigen Erzählton von Sigrid Nunez kein bisschen. Der Papagei bleibt ihrer Erzählerin nicht lange, weil ein junger Mann in die große Wohnung einzieht, der das Tier und die Sorge ums Tier von ihr übernimmt. Der Störenfried, den sie wie Unkraut "Giersch" nennt, wird allmählich dann doch zu einem Gesprächspartner, der für seine vegane Ernährung wirbt. Auch das ist eine Gabe von Sigrid Nunez: Alle und jeden ins Gespräch zu ziehen und überall Geschichten zu finden, die sich erzählen lassen.
So ist "Die Verletzlichen"– wie alle Bücher von Nunez – zwar weniger ein Roman - und wenn, ein schlechter –, aber doch eine Fundgrube für alles Mögliche. Nicht zuletzt ist es ein Buch über die jetzt schon so fern gerückte Corona-Zeit, in der jeder für sich existierte und sogar die Hundeaus-laufplätze geschlossen blieben. Die Gespräche der klugen älteren Damen kreisen häufig um Genderfragen, um das Problem der sexuellen Übergriffigkeit und übler Nachrede oder um das seltsame Phänomen der kulturellen Aneignung. Warum, argumentiert eine von ihnen, sollten die Leute "nicht das Recht haben, ihre Ethnie oder Ethnizität zu wählen, wenn sie schon das recht hatten, ihr Geschlecht zu wählen?"
So schafft es Sigrid Nunez, mit einer einfache Fragen sehr viel Luft aus einer aufgeblasenen Debatte abzulassen.
Eine unbedingt lohnende Lektüre
Ihr Schreiben, schreibt sie, kommt aus etwas, das fehlt. Aus etwas Verlorenem. "Ich erinnere mich" steht deshalb für sie am Anfang allen Schreibens. 57 Mal kommt diese Formel auf 220 Romanseiten vor, und selbstverständlich zitiert Nunez auch den amerikanischen Autor Joe Brainard, der mit dieser Formel und unter diesem Titel ein ganzes Buch gefüllt hat. Auch im Zentrum ihres Erzählens geht es bei Nunez also um das Wie des Schreibens. Doch Erzählen und reflektieren sind bei ihr keine Gegensätze, sondern gehören untrennbar zusammen. Das macht aus ihren nur scheinbar leichterhand dahingeplauderten Büchern eine unbedingt lohnende Lektüre.
Jörg Magenau, rbbKultur