Frank Walter Steinmeier und Sergej Wiktorowitsch Lawrow bei einem Treffen in der Normandie 2016, wo die Lage in der Ost-Ukraine besprochen wurde © IMAGO/ ITAR-TASS 
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Die Debatte mit Natascha Freundel, Marko Martin und Michael Roth - Geschichtsvergessen in die Zukunft? – Die Ostpolitik der SPD

"Der Mittelweg ist der Tod." (Michael Roth)

"Eine kleine Sternstunde dieser Demokratie in dunkler Zeit" (Zeit) war es für die einen, für andere ein "Eklat" (Tagesspiegel). Bei der Gedenkveranstaltung zum 35. Jahrestag des Mauerfalls im Schloss Bellevue sprach der Schriftsteller und Essayist Marko Martin von deutsch-deutscher "Geschichtsvergessenheit". Er pries die polnische Freiheitsbewegung Solidarność und kritisierte "Lebenslügen und Verdrängungen" bei deutschen Politikern, nicht zuletzt dem Hausherrn: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Martin forderte eine Debatte zum "Erkenntnis-, Handlungs- und Ehrlichkeitsdefizit West" in Sachen Russland, Ukraine und Nato. Eine öffentliche Reaktion des Bundespräsidenten blieb aus. Der SPD-Politiker und Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Michael Roth aber kontaktierte Marko Martin sofort. Hier treten sie in einen Gedankenaustausch über die Ostpolitik der SPD, dissidentisches Denken und die Rolle Deutschlands in Europa.

Es gibt diejenigen, die whatever-it-takes sagen, also alles, was die Ukraine braucht, ihr auch zur Verfügung stellen wollen, in enger Abstimmung mit unseren Partnern. Die sagen, da muss mehr und schneller getan werden. Die sind von uns enttäuscht. Und diejenigen, die sagen, wir wollen einen Frieden, aber keinen gerechten Frieden, sondern einen Diktatfrieden, der uns wieder in Ruhe lässt, der uns wieder zu den vermeintlich guten alten Zeiten zurückkehren lässt: diese stellen wir auch nicht zufrieden. Weil wir diesem erbärmlichen Populismus der AfD, vor allem der Wagenknechte nicht folgen können. Insofern ist der Mittelweg der Tod. Das ist meine auch selbstkritische Erkenntnis aus 27 Jahren Mitgliedschaft im Bundestag und langjähriger Politik, politischem Engagement: Manchmal muss man sich bekennen und muss dafür kämpfen.

Michael Roth

In meiner Beschäftigung mit polnischen Schriftstellern, Intellektuellen und vielen Besuchen im Land habe ich gelernt, dass man den Deutschen sarkastisch sagt: Ihr habt uns Hitler gebracht, und ihr habt uns Stalin gleich mitgebracht nach dem 17. September 1939, als Stalin einmarschierte und dann nach 1945 das ganze Land unter seine Kontrolle brachte. Das sind in Deutschland im wahrsten Wortsinn osteuropäische oder böhmische Dörfer. Das weiß man nicht, oder es ist nicht diese emotionale Erschütterung, die aus der Kenntnis von Geschichte käme. Es ist natürlich ganz wichtig, was in der Vergangenheit war. Es ist ja nicht vergangen, es geht ja weiter und diese Gegenwartsidiotie, dass man sagt, man kümmert sich nur um das Heute, führt dazu, dass man nicht mal das Heute richtig einordnen und analysieren kann.

Marko Martin
Michael Roth (© Michael Farkas) und Marko Martin (© Anke Illing)
Michael Roth und Marko MartinBild: Michael Farkas | Anke Illing

Gäste

Marko Martin, geboren 1970 in Burgstädt/Sachsen, erhielt in der DDR aus politischen Gründen Hochschulverbot. Im Mai 1989 reiste er als Kriegsdienstverweigerer in die Bundesrepublik aus und studierte an der FU Berlin Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte. Er arbeitet heute als freier Autor in Berlin. Seine essayistischen Reiseberichte erzählen von Begegnungen und Begehren in Tel Aviv und Teheran, Hongkong und Habana. Seine literarischen Streifzüge führen durch die israelische und osteuropäische Literatur, u.a. "Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters" (Die Andere Bibliothek, 2019) und "Brauchen wir Ketzer?" (Arco Verlag 2022). Sein jüngstes Buch ist "Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober" (Tropen Verlag, 2024). Der Bundespräsident hat Marko Martins Rede im Schloss Bellevue zum 35. Jahrestag des Mauerfalls online gestellt: https://www.youtube.com/watch?v=2IkpAgxFwhE

Michael Roth, geboren 1970 in Heringen/ Werra, ist seit 1998 direkt gewählter SPD-Bundestagsabgeordneter für Hersfeld-Rotenburg und den Werra-Meißner-Kreis und seit 2021 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Er hat Politologie, Öffentliches Recht, Germanistik und Soziologie an der Goethe-Uni in Frankfurt/M. studiert, am dortigen Institut für Nordamerikaforschung mitgearbeitet und Politikwissenschaften an der FU Berlin gelehrt. Seit 1987 ist er Mitglied der SPD. Er war Juso Bundesvorsitzender, 2017 bis 2023 im SPD-Parteivorstand und 2021 bis 2023 Präsidiumsmitglied der SPD. 2012 bis 2021 war er Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt sowie Beauftragter für die deutsch-französische Zusammenarbeit. In seiner Partei und in der öffentlichen Debatte spricht sich Roth für eine starke Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen den Aggressor Russland aus. Im März 2024 gab er seinen Rückzug aus der aktiven Politik zum Ende der Legislaturperiode bekannt.

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Hier wird nicht nur debattiert, hier wird auch zusammen nachgedacht. Über alles, was unser Miteinander betrifft. Bildung, Digitalisierung, Demokratie, Einsamkeit, Freiheit, Klima, Kultur, Städtebau, Visionen - die Themen liegen in der Luft, nicht erst, aber besonders deutlich seit der Corona-Pandemie. Jede Folge widmet sich einer Frage unserer Zeit. radio3-Redakteurin Natascha Freundel spricht jeweils mit zwei Gästen, die wissen, wovon sie reden. Philosophisch, aber nie abgehoben. Persönlich, aber nicht privat. Kritisch und konstruktiv. Hier soll es nicht knallen, sondern knistern. Immer auf der Suche nach dem zweiten, neuen Gedanken.