Nahostkrieg – ein Junge Blick auf ein zerstörtes Gebäude in den Trümmern von Gaza Stadt © picture alliance/ Anadolu/ Abed Rahim Khatib
radio3
Bild: picture alliance/ Anadolu/ Abed Rahim Khatib Download (mp3, 102 MB)

Die Debatte mit Natascha Freundel, Joschka Fischer und Avi Primor - Nahostkrieg: Zweistaaten- oder Gewaltlösung?

"Es geht um die Existenz Israels." (Joschka Fischer)

Zwei elder statesmen sprechen offen über den Nahostkonflikt. Der hundert Jahre alte Konflikt – zwei Völker beanspruchen ein Land – birgt seit dem 7. Oktober die Gefahr eines neuen Weltkriegs, glaubt Joschka Fischer. Resigniert blickt der ehemalige deutsche Vizekanzler auf die Entwicklungen seit dem Oslo-Abkommen zurück: Den einseitigen Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen, die Intifada, die Machtübernahme der Hamas in Gaza.

Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, kritisiert die sechste Amtszeit Benjamin Netanjahus scharf: die "Justizrevolution", das Versagen der Sicherheitspolitik am 7. Oktober. Der israelischen Führung gehe es nur um Machterhalt und um die Annexion der besetzten Gebiete. Kein Ausweg, nirgends? Bloß keine Ratschläge von Deutschland, so Fischer. Primor möchte realistisch bleiben und an Wunder glauben.

Im Grunde genommen wird Israel doch beschuldigt, die letzte westliche weiße Siedlerkolonie zu sein. Der legitime Anspruch auf einen jüdischen Staat, der Anspruch einer über die Jahrhunderte hinweg verfolgten und gequälten jüdischen Minderheit in der Diaspora, mit dem Höhepunkt der Shoah, scheint verloren zu sein. Das wird fatale Konsequenzen haben für das internationale Standing Israels. Ich meine, das ist geplant gewesen. Warum dieser Überfall, warum diese Misshandlungen und Vergewaltigungen am helllichten Tag vor allen Augen der Öffentlichkeit? Um die Tür zu schließen für eine israelische Führung, anders als mit aller Militärmacht in den Gaza-Streifen einzurücken. Für die Hamas war es offensichtlich wert, den Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Geheimdienste, der IDF zu zerstören und dafür die eigene Bevölkerung zu opfern. Aber es kann so nicht weitergehen. Noch zehntausende Opfer, das wird Israel nicht durchstehen.

Joschka Fischer

Netanjahu hat alles 'sehr gut' gemacht, die Fehler stammen von den anderen: den Generälen, den Beamten, den Sicherheitsbehörden, dem Justizministerium und so weiter. Was hat der Premierminister damit zu tun? Nur vergisst man, was er tatsächlich vorher getan hat. Er war ja nicht untätig, er hat den Hamas-Leuten Geld überwiesen. Warum der Hamas Geld überweisen, warum die Hamas stärken? Er hat einen Krieg nicht gefürchtet, weil er die Lage nicht verstanden hat. Aber warum dennoch die Hamas-Leute stärken? Weil das gegen die Fatah ist! Und warum will er die Fatah zerstören? Weil die Fatah bedeutet, das Westjordanland als Palästinenserstaat zu entwickeln. Er will das Westjordanland annektieren. So einfach ist es. Deshalb fördert er dort immer mehr Siedlungen und so weiter. Das ist die echte Geschichte.

Avi Primor
Joschka Fischer, Natascha Freundel und Avi Primor © Olivier Favre
Joschka Fischer, Natascha Freundel und Avi PrimorBild: Olivier Favre

Gäste

Avi Primor, geboren 1935 in Tel Aviv, war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Er ist Sohn eines niederländischen Emigranten; seine Mutter ging 1932 von Frankfurt am Main nach Tel Aviv, ihre gesamte Familie wurde in der Shoah ermordet. Avi Primor war als Diplomat in der Elfenbeinküste, in Benin, in Frankreich und in Brüssel als israelischer Botschafter bei der EU, in Belgien und Luxemburg tätig. 2004 gründete er das trilaterale Zentrum für Europäische Studien am Interdisciplinary Center Herzliya in Israel, einen Studiengang für israelische, palästinensische und jordanische Studenten. 2015 erschien seine Autobiographie "Nichts ist jemals vollendet". Sein jüngstes Buch heißt "Bedrohtes Israel. Ein Land im Ausnahmezustand" (beide Quadriga Verlag).

Joschka Fischer, geboren 1948 in Gerabronn, war von 1998 bis 2005 Bundesaußenminister und Vizekanzler in der Regierung von Gerhard Schröder. Er war maßgeblich engagiert in der Studentenbewegung und trat 1982 der Partei "Die Grünen" bei. Fischer war hessischer Staatsminister für Umwelt und Energie und erstes Kabinettsmitglied der Grünen. Mit Fischer als Bundesaußenminister wurden erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Bodentruppen in einem Krieg eingesetzt, 1999 im Kosovokrieg. Ab 2001/2002 beteiligte sich die Bundeswehr am Krieg in Afghanistan. Jedoch weigerte sich die Bundesregierung 2003, den Irakkrieg der USA zu unterstützen. 2006 legte Fischer sein Bundestagsmandat nieder und zog sich aus der Politik zurück. Er ist heute mit "Joschka Fischer Consulting" als Berater und Buchautor tätig. Sein jüngstes Buch "Zeitenbruch. Klimawandel und die Neuausrichtung der Weltpolitik" erschien 2022 (Kiepenheuer & Witsch).

Mehr

Der zweite Gedanke; © radio3
radio3

Debatte mit Natascha Freundel & Gästen - Der Zweite Gedanke

Hier wird nicht nur debattiert, hier wird auch zusammen nachgedacht. Über alles, was unser Miteinander betrifft. Bildung, Digitalisierung, Demokratie, Einsamkeit, Freiheit, Klima, Kultur, Städtebau, Visionen - die Themen liegen in der Luft, nicht erst, aber besonders deutlich seit der Corona-Pandemie. Jede Folge widmet sich einer Frage unserer Zeit. radio3-Redakteurin Natascha Freundel spricht jeweils mit zwei Gästen, die wissen, wovon sie reden. Philosophisch, aber nie abgehoben. Persönlich, aber nicht privat. Kritisch und konstruktiv. Hier soll es nicht knallen, sondern knistern. Immer auf der Suche nach dem zweiten, neuen Gedanken.