Staatsoper Unter den Linden - Die Staatskapelle Berlin unter Simon Rattle
Der ehemalige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Sir Simon Rattle war mal wieder in Berlin zu erleben, diesmal allerdings am Pult der Staatskapelle Berlin, der er seit etlichen Jahren als Gastdirigent verbunden ist. Auf sein Programm hat er zum Bruckner-Jahr die vierte Sinfonie des Komponisten gesetzt. Dazu gab es "Die sieben Todsünden" von Kurt Weill.
Hauptfigur dieses Musiktheaters, ein, wie vom Komponisten genannt "Ballett mit Gesang", ist Anna, die von ihrer Familie sieben Jahre durch die USA geschickt wird, um Geld für ein gemeinsames Häuschen zu verdienen. Was sie erlebt und nach Ansicht ihrer Familie falsch macht, ist durch die Todsünden gekennzeichnet.
Das ist eine absolute Doppelmoral, denn nur das ist "richtiges" Verhalten, das dazu führt, dass man eben Geld verdient. Mit eigentlicher Moral hat das natürlich nichts zu tun, die ganze Sache ist, wie bei Brecht, der den Text beigesteuert hat, und Weill nicht anders zu erwarten, klare Kapitalismuskritik.
Mehr Oper als Satire
Wie geht man nun mit der Darstellung dieser Figur um? Vor Kurzem hat es Katherine Mehrling im Konzerthaus verkörpert, und auch wenn diese Aufführung unter Joana Mallwitz missglückt war, war Mehrling richtig besetzt, eine Darstellerin mit Musical- und Chansonerfahrung. Mit Magdalena Kožená hat man eine Opernedelstimme, volltönend, große Tragödin. Nur fehlen Satire und ironischer Biss, ganze Textpassagen versteht man kaum.
Auch die vier Sänger des Männerquartetts sind wunderbare Opernstimmen. Sie haben ihren Spaß an den faulen Moralsätzen der Familienmitglieder, werfen sich mit Volldampf in die Sache, aber auch hier wird Oper gesungen, sie alle singen auf hohem Niveau an der Sache vorbei.
Zu viele Häkeldeckchen
Simon Rattle kennt das Stück in- und auswendig, kann ganz auf Noten am Pult verzichten und hat alles im Griff, nur spielt die Staatskapelle zu gehoben, süffig und mit Champagnerklängen, vollmundig im Geschmack. Das passt für Anderes sehr gut, nur hier ist es zu wenig schmutzig, zu sinfonisch und mit zu vielen Häkeldeckchen auf dem Tisch.
Fassungen ohne Ende
An keiner anderen Sinfonie hat Anton Bruckner so viel herumgeschraubt und geändert wie an seiner Vierten. Drei grundlegende Fassungen muss man unterscheiden, vom Finale gibt es sogar vier, und genau genommen auch eine fünfte, für die sich Simon Rattle entschieden hat, mit einer Kürzung im Finale. Das Ergebnis ist eine ziemliche Kompaktheit, nach einer Stunde ist schon Schluss, das riecht nach Rekord.
Nun sind Bruckners Sinfonien so oder so ziemliche Schwergewichte, lang und gewaltig, aber Simon Rattle hat einen anderen Plan. Von Anfang an treibt er die Schwere aus der Musik, das hat Zug und Dynamik, ist rhythmisch zupackend und zwingend. Die zügigen Tempi sorgen dafür, dass manches unbeachtet liegenbleibt, aber das nimmt er in Kauf.
Musikmassage der Extraklasse
Das kann man so dirigieren, und es ist auch durchaus sinnvoll, man hört manches viel zusammenhängender. Das, was bei Bruckner scheinbar nebeneinandersteht, versteht man in der Form deutlich besser in dieser Kompaktheit. Und weil der Klangrausch bleibt, erzeugt das einen Sog, der die Emotionalität dieser Musik noch erhöht. Ein Beweis dafür, dass man sich von Musik bestens massieren lassen kann.
Das ist so sicher keine neue ewig gültige Sicht auf die Sinfonik Anton Bruckners. Es ist radikal und durchaus auch einseitig, aber absolut erfrischend. Und es funktioniert auch nur deswegen so gut, weil die Staatskapelle Berlin auf blendendem Niveau spielt. Das hat Brillanz, Schärfe und klangliche Kulinarik. Bei einem weniger guten Orchester wäre das schief gegangen, aber hier zeigte sich absolute Spitzenklasse.
Andreas Göbel, radio3