Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz - "Wachs oder Wirklichkeit"
Was ist echt und was ist surreal? Diese Frage stellt man sich in diesen Tagen mitunter durchaus auch, wenn man die Politik betrachtet. Der preisgekrönte Regisseur Christoph Marthaler aber bringt diese Frage auf die Bühne. In seinem Stück "Wachs oder Wirklichkeit" untersucht er die Grenzen zwischen Realität und Einbildung und schafft ein einzigartiges Theatererlebnis, das auch die Zuschauer mit einbezieht.

"Wachs oder Wirklichkeit" – dieser Titel des Abends, mit dem der Musiker und Theatermacher Christoph Marthaler nach fast zehn Jahren an die Volksbühne zurückkehrt, ist ganz wörtlich zu verstehen. Denn nachdem sich der eiserne Vorhang gehoben hat, schauen wir in die Galerie eines Wachsfigurenkabinetts: Der Fernsehkoch Horst Lichter steht dort mit ausladendem Schnurrbart etwa neben Heino mit Sonnenbrille. Anna Viebrock hat eine Art Jugendstil-Foyer über zwei Stockwerke gebaut, auf der oberen Balustrade steht unter anderem ein Karl Lagerfeld mit langem Haar.
Doch eine der schönsten Szenen ereignet sich, als der Vorhang noch geschlossen ist: Clemens Sienknecht setzt sich im 1980er-Retro-Look ans Klavier und spielt immer wieder dieselben wenigen Takte vom einstigen Discohit "Rhythm is a Dancer" als Telefondauerschleife, einzig unterbrochen von seinen Worten: "Bitte haben Sie noch ein wenig Geduld, wir sind gleich wieder für Sie da." Mehrere Minuten geht das so – Klavier, Song, Text – und wieder von vorn. Ein klassischer Marthaler-Moment von Wiederholung und Zeitdehnung.
Wer ist hier nun echt und wer nicht?
Und ein Insider-Joke: Denn das Lied "Danke für diesen guten Morgen", das das Ensemble in Marthalers legendärer Inszenierung "Murx den Europäer" in den 1990er Jahren singt, wurde viele Jahre in der Telefonwarteschleife der Volksbühne abgespielt. Womöglich ist das noch immer so. Doch auch, wenn man den Witz nicht versteht, macht die Szene Sinn: Ein realer Mensch imitiert die Maschine – statt wie sonst umgekehrt. Das passt bestens zu den vielen Fragen, die durch diesen Abend wehen: Original oder Fake, Wahrheit oder Lüge, Künstliche Intelligenz oder realer Mensch?
Als sich der Vorhang schließlich hebt, stehen die Schauspieler:innen und Musiker:innen regungslos neben den Wachsfiguren: eine Lady Di, ein Albert Schweizer. Und während eine alte Hausmeisterin mit Haarnetz und Staubwedel (die wunderbare Hildegard Alex) sie alle abstaubt, sowohl die Figuren aus Wachs als auch jene aus Fleisch und Blut, muss man sich mehrfach fragen: Wer ist denn hier nun echt und wer nicht?
Verschmitzte Gespräche über das Leben, die Liebe, die Ehe, den Abschied
Im Laufe des Abends wird dann, für Marthaler-Verhältnisse, erstaunlich viel Text gesprochen. Ziemlich anlasslos rezitieren die Schauspieler:innen Dialoge vom Schweizer Prosa- und Theaterautor Jürg Laederach. Ein (verstorbener) Schriftsteller, der mit all seinem Sprachwitz, seinen surrealen Bildern, seiner Anarchie gut zu Marthaler und Viebrock passt. Eine tragende Handlung oder Realismus darf man darin allerdings nicht suchen. Es sind vielmehr kleine verschmitzte Gespräche über das Leben, die Liebe, die Ehe, den Abschied. Mit schönen Sätzen wie: "Das Leben ist eine Pistole, die nicht losgeht. Manchmal aber schon."
Ein herrlich verschrobenes Ensemble
Dazwischen geht die Mitte 80-jährige Hildegard Alex umher, die schon in Marthalers "Murx den Europäer" gespielt hat. Zunächst als Hausmeisterin, später als Queen Elizabeth im pinken Blazer, zetert sie immer wieder: "Nicht einschlafen! Nicht einschlafen!" Und piekst die Schauspieler:innen mit dem Staubwedel. Wie immer ist das Marthaler-Ensemble ein herrlich verschrobenes und vereint mehrere Generationen. Von Hildegard Alex bis zur ganz jungen Rosa Lembeck.
Gegenseitig tragen sie sich steif wie Wachsfiguren auf die Bühne. Dort stehen sie dann eine Weile als ihr eigenes Imitat, kippen um, gehen wieder raus. Der Effekt ist schräg: Durch die Schauspieler:innen, die Wachsfiguren imitieren, scheint es immer wahrscheinlicher, dass die Wachsfiguren selbst nur spielen. Wann wird der nächste Wachs-Geglaubte wie selbstverständlich aufspringen und ein Lied singen?
Dazu wechseln sich Jürg Kienbauer und Clemens Sienknecht am Klavier ab, während die großartige norwegische Sängerin Tora Augestad hin und wieder Schlager in ihrem kurzen Glitzerkleid parodiert – auch diese Sängerinnen stehen schließlich im Wachsfigurenkabinett neben den großen Entdeckern, Politikerinnen und Royals. Ein melancholischer Moment ist es dann, wenn sich jeder im Ensemble eine Wachsfigur sucht und für sie singt: "That’s What Friends Are For". Die Fake-Menschen müssen als Freundinnen herhalten. Fast wie im wirklichen Leben.

Ästhetik, Witz und intelligente Melancholie sind zurück
In weltumstürzlerischen Jahren wie diesen wirkt der neue Marthaler-Abend in all seiner Surrealität seltsamerweise ganz auf der Höhe der Zeit. Wie lange dauert Berühmtheit, schwingt als Frage stets unterschwellig mit. Und auch und noch viel umfassender: Was ist Leben, was ist Tod, was ist echt, was ist ein Körper, was bedeutet Nähe? Wann werden Menschen ausgesondert und weggeworfen?
Es sind die ewigen Marthaler-Themen. Alles an diesem Abend kommt einem bekannt vor. Und doch: Man hat sie schwer vermisst, diese unvergleichliche Ästhetik, den Witz, die intelligente Melancholie. Gut, dass Marthaler und Viebrock zurück sind an der Volksbühne.
Barbara Behrendt, radio3