Die heilige Johanna der Schlachthöfe © Birgit Hupfeld
Birgit Hupfeld
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Berliner Ensemble - "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" von Bertolt Brecht

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Empathie trifft Kapitalismus: So könnte man Bertolt Brechts Theaterstück "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" zusammenfassen. Die warmherzige Idealistin Johanna Dark begegnet darin dem kühlen "Fleischkönig" Mauler. Und das vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise um 1930. Bertolt Brecht griff mit dem Stück damals den großen Einfluss des Geldes auf, dem sich bis heute niemand entziehen kann. Ein Stück, das nichts an Aktualität eingebüßt hat. Gestern hatte es in der Inszenierung des tschechischen Regisseurs Dušan David Pařízek am Berliner Ensemble Premiere.

Gerade hat die erbarmungslose Kapitalistin Mauler, gespielt von Stefanie Reinsperger, ihren Konkurrenten Lennox in den Ruin getrieben und dann ironisch angefügt: "Mir scheint, als ob ein Kummer ihn bedrückte". Da steht die zarte Johanna vor ihr und verlangt Auskunft, wer denn nun Schuld sei am Elend, das an den Schlachthöfen herrsche, im Chicago 1930, mit zig Tausenden Arbeitslosen und Löhnen, die gerade mal für ein Stück Brot reichen.

Die heilige Johanna der Schlachthöfe © Birgit Hupfeld
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Und siehe da: Die Maulerin, in Bertolt Brechts "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe" ursprünglich ein Mann, zeigt Rührung. Johanna, gespielt von Kathleen Morgeneyer, fasziniert sie – eine junge Frau, die ohne Lohn bei den Missionaren von den "Schwarzen Strohhüten" arbeitet, die Ideale hat, die die Welt verändern will. Wie eine zärtliche Mutter, die ihrem geliebten Kind eine schwere Lektion erteilen muss, führt sie Johanna zu den Schlachthöfen und zeigt ihr die Schlechtigkeit der Armen, die ihre Liebsten für ein warmes Mittagessen verraten. Doch Johanna lernt etwas anderes: "Nicht der Armen Schlechtigkeit hast du mir gezeigt, sondern der Armen Armut."

Mauler und Johanna - zwei Seiten einer Medaille

Obwohl die laute, überschäumende Stefanie Reinsperger und die zarte, ätherische Kathleen Morgeneyer am Berliner Ensemble so unterschiedliche Typen sind, ist das Band zwischen ihnen enger verknüpft als man das kennt zwischen Mauler und Johanna. Sie bewundern einander und sehen ihr Heil an die andere gebunden: Während Johannas Charakter im Laufe des Stücks gebrochen wird, wird Frau Maulers gebrochener Charakter eine Winzigkeit menschlicher. Wie zwei Seiten einer Medaille. Mit einem sehr emotionalen, tränenreichen Spiel werden sie zum Glutkern der Inszenierung, die sich ganz am traditionellen Sprechtheater abarbeitet.

Über diese beiden ambivalenten Figuren wird das ganz große Fass aufgemacht: Wer ist gut und wer böse? Ist die Maulerin eine der schlechten Reichen, die oben auf der Wippe sitzt, während die Armen unten sitzen, oder macht das System selbst den Menschen schlecht, wie ihn auch die Armut schlecht macht? Reinspergers Maulerin lässt sich in ihrer blutroten Gala-Robe, die schwer an zwei Steak-Lappen denken lässt, hin und her wehen von bittersüßen Gefühlsstürmen wie eine Opern-Diva – setzt zuletzt (zwei Seelen in ihrer Brust!) aber doch stets auf Gewinn statt auf Menschlichkeit.

Brechts "Heilige Johanna" wird immer gespielt, wenn es schlecht um die Welt steht

Bertolt Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe" steht immer dann auf den Spielplänen, wenn es gerade besonders schlecht um die Welt steht. Brecht hat dieses, sein erstes marxistisches Drama, während der Weltwirtschaftskrise geschrieben und in Deutschland war es nach der Finanzkrise in den 2010er Jahren das Stück der Stunde: Johanna Dark, eine Missionarin, gerät vor den Schlachthöfen in Chicago 1930 in den Strudel der sozialen Not der Arbeiter und der Profitgier der Fleischbosse.

Doch eigentlich ist dieses Stück immer aktuell – solange wir im Kapitalismus leben. In der Uraufführung 1959, als die Wirtschaft grade mal prosperierte, konzentrierte man sich auf die Kritik von Kirche und Glaube, die auch in der "Heiligen Johanna" steckt. In den 1970er Jahren, zu Zeiten der RAF, war die Frage nach der Gewalt im Klassenkampf virulent.

Aktuelle Anspielungen

Der tschechische Regisseur Dušan David Pařízek akzentuiert in seiner Inszenierung am Berliner Ensemble nun mehrere Themen. Etwa die Monopolisierung. Die Großunternehmerin Mauler kauft zuletzt alle Zulieferfirmen auf und errichtet ein Imperium. Das kommentiert der Schauspieler Marc Oliver Schulze mit: "Na, das ist ja Meta, äh, mega" – in Anspielung auf Marc Zuckerberg.

Oder das Reinwaschen per Spenden – hier steht die Doppelmoral mancher Charity im Raum. Auch über die Arbeitsbedingungen im Zuge der Globalisierung, Stichwort: Lieferkettengesetz, könnte man ins Nachdenken kommen. Der Anknüpfungspunkte sind also viele, die Pařízek hier auf fünf Schauspieler:innen, ohne Chöre, ohne Aufmärsche, konzentriert. Dem sperrigen Brecht-Text versucht er, einigen Humor abzuringen, was allerdings nicht immer zündet.

Auf den Wänden des weißen, halb offenen Bühnenkastens, der abschüssig geradewegs in den Graben zu führen droht, spielt das Ensemble mit Licht und Schatten. Figuren werden übermenschlich groß, winzig klein – und vollführen neckische Fangspiele, wenn sie einem Schatten unter den Rock fassen. Nun ja.

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Ein dichter Abend mit handfesten Figuren, Parodie und Oldschool-Sprechtheater

Die pathosgeladene Sprache, mit der Brecht Schiller, Goethe und Hölderlin parodiert hat, ist (zum Glück) stark eingekürzt. Glänzend parodiert werden dafür die Missionare von den "Schwarzen Strohhüten". Die junge, tolle Schauspielerin Amelie Willberg macht da sehr komisch mit den Reichen für ein Taschengeld gemeinsame Sache, um die Armen mit dem Wort Gottes ruhig zu stellen.

Auch wenn die Inszenierung den verwinkelten Brecht-Text auch mal ziemlich dröge auf die Bühne stellt, arbeitet sie den gedanklichen Kern doch klar heraus: "Denn es hat sich herumgesprochen, dass das Unglück nicht entsteht wie der Regen, sondern gemacht wird von denen, welche ihren Vorteil davon haben", sagt Johanna schließlich, am Ende ihrer Entwicklung von der verblasenen Idealistin zur Reformerin zur gescheiterten Revolutionärin. Letztlich geht es hier um die Veränderbarkeit der Systeme, in denen wir leben.

Dass Stefanie Reinsperger in der vermeintlichen Pause, die sich dann als eigentliches Lehrstück herauskristallisiert, auch noch die höchst komplexen Textmassen aus der Kapitalisten-Bibel "Der Streik" von Ayn Rand performen muss, den ohnehin so schnell kaum jemand verstehen wird, ist überflüssig.

Doch in der Mischung aus handfesten Figuren, aus Parodie, Komplexität und Oldschool- Sprechtheater entsteht dann doch ein dichter Abend, an dem man ein Weilchen knabbern kann.

Barbara Behrendt, radio3

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