Maxim Gorki Theater - "Frankenstein" nach Mary Shelley
In einer Novembernacht gelingt Frankenstein, woran er seit Jahren gearbeitet hat: Er erweckt ein künstliches Wesen zum Leben. Doch kaum öffnet die namenlose Kreatur ihre Augen, erfasst ihren Schöpfer blankes Entsetzen. Der Regisseur Oliver Frljić hat Mary Shelleys düsteren Romanklassiker für die Bühne adaptiert. Am Samstag feierte das Stück Premiere am Maxim Gorki Theater.
Es gibt Theaterabende, über die möchte man als Kritikerin am liebsten den Mantel des Schweigens breiten. Wenn zum Beispiel derart kalkuliert auf der Bühne provoziert wird, dass man sich vom Regie-Team geradezu aufgefordert fühlt, die Inszenierung zu verreißen. Doch Verrisse schaffen Aufmerksamkeit – und zu viel davon hat der Abend beileibe nicht verdient.
Aber man möchte auch nicht vorenthalten, was der ehemalige künstlerische Co-Leiter des Gorki-Theaters in diesem wichtigen Hauptstadttheater auf die Bühne stellt. Nun denn, erste Szene: Der junge Schauspieler Marc Benner tritt als Alter Ego des Autors auf, man sieht es am Frljić-Konterfei auf seinem Pullover, und klagt sich dafür an, seine schwerkranke Mutter in Kroatien kurzerhand ins Pflegeheim einquartiert zu haben, um seine "Frankenstein"-Premiere in Berlin abzuschließen.
Deutschland - das politische Monster
Kaum zurück bei den Proben, stirbt sie. Und der Erzähler ist sauer auf Deutschland: "Ich wollte eine Inszenierung kreieren, in der Frankenstein als Metapher für die beiden Deutschlands dienen sollte – verschmolzen zu einem einzigen, monströsen Wesen. Doch die Realität hat die Fiktion längst eingeholt: Deutschland hat sich bereits in dieses politische Monster verwandelt. Im Moment ist mir Deutschland und seine politische Zukunft scheißegal. Ich wünsche Deutschland einen langsamen und schmerzhaften Tod – die Art von Leid, die es so vielen anderen zugefügt hat."
Das ist bitter – erklärt dem Publikum aber rein gar nichts. Aufschlussreicher dann das folgende Selbstgespräch mit der toten Mutter: "Ich bin mir ziemlich sicher, Mama, dass ich auch eine Art Monster bin – indem ich deinen Tod in eine öffentliche Inszenierung verwandle. Indem ich deinen Tod hier auf der Bühne verkaufe. Und für welchen Preis?! Deutsche Emotionen."
Der Horror-Klassiker als Mutter-Sohn-Geschichte - geht das?
Den Ausdruck "deutsche Emotionen" spuckt der Schauspieler aggressiv ins Publikum, als setze er gleich zur Beschimpfung an. Doch die eigentliche Frage lautet: Kann man den Horror-Klassiker "Frankenstein" als Geschichte über Mütter und Söhne lesen? Wenden sich die Kinder zuletzt immer gegen die Mütter, von denen sie verlassen und enttäuscht worden sind? Ist das wahre Monster nicht das Monster selbst, sondern dessen Schöpfer?

Weil es um Literatur und Theater geht, muss nun auch die Frankenstein-Mutter Mary Shelley über ihr literarisches Geschöpf befragt werden. Die Britin Kate Strong gibt die Schriftstellerin als eiskalte Horror-Mutter mit weiß geschminktem Gesicht und schwarzen Lippen: "Wie ich bereits erwähnte, ist dies mein zweiter Versuch, Frankenstein zu inszenieren", so der Erzähler nun im Gespräch mit ihr.
"Mein erster Versuch fiel mit dem Tod meiner Mutter zusammen – eine seltsame Parallele, wenn man bedenkt, dass Ihr eigener Impuls, diesen Roman zu schreiben, nach dem Verlust Ihres ersten Kindes kam. Habe ich Recht?" Und sie: "Ja, Sie haben Recht. Von fünf Schwangerschaften hat nur ein Kind überlebt."
Weil sie also – legt die Inszenierung nahe – ihre verstorbenen Babys nicht zum Leben erwecken konnte, tat sie es mit einem toten Geschöpf in ihrem Buch. Kein weltbewegend neuer Gedanke, doch man könnte damit arbeiten – würde dem Regisseur genügend dazu einfallen.
Versuchte Provokation und anlasslose Publikumsbeschimpfung
Doch innerhalb von schmalen 75 Minuten werden nun grobschlächtig und überdreht, irgendwo zwischen Grusel und Slapstick, ein paar "Frankenstein"-Szenen nachgestellt, die aufgrund von mehrfachem Figurentausch kaum zu entschlüsseln sind. Dazu eine riesige Bibel, die sich als aufklappbarer Sarg erweist, ein Priester, der sich ein Mikrofon als erigierten Penis zwischen die Beine steckt, ein paar Kondome, die durch die Luft fliegen.
Was man halt so gemacht hat vor 20 Jahren, wenn man provozieren wollte. Und weil das wohl kaum für eine Schlagzeile reicht, folgt noch eine anlasslose Publikumsbeschimpfung: "Fuck you, fuck you, fuck all of you! Fuck this theatre, fuck the Maxim Gorki!". Plus der Selbstmord des Erzählers auf offener Bühne.
Nicht, dass man nicht die eigene Familiengeschichte verhandeln sollte, im Gegenteil. An der Berliner Schaubühne hat Falk Richter vergangenes Jahr gezeigt, wie berührend und erschütternd die Beziehung zur eigenen Mutter universell auf der Bühne erzählt werden kann. Oliver Frljićs Stück dagegen bleibt gänzlich privatistisch. Welches Problem sein Alter Ego mit seiner Mutter und seinem Leben in Deutschland haben mag – es wird nie erklärt und interessiert einen daher leider herzlich wenig.
Nun hat Frljić zwar schon immer brachial provoziert, doch vor zehn Jahren war dabei ehrliche Wut gegen den sensationsgierigen Kulturbetrieb spürbar, Empörung gegen die Unterdrückungsmechanismen der katholischen Kirche. Heute bleibt nur die kalkulierte und anlasslose Hassrede. Im Programmheft beklagt Frljić den Verlust seiner "künstlerischen Integrität" – ein Opfer, zu dem ihn das deutsche Theater mehr oder weniger gezwungen habe. Auch das: kryptisch. Zum Besuch dieser Inszenierung sollte sich jedenfalls niemand gezwungen fühlen.
Barbara Behrendt, radio3