Deutsches Theater - "Gier" von Sarah Kane
Vor fast 26 Jahren, am 20. Februar 1999, nahm sich die britische Theaterautorin Sarah Kane im Alter von nur 28 Jahren das Leben. Fünf Theaterstücke hat sie in ihrer kurzen, aber sehr ruhmreichen Zeit veröffentlicht. Stücke, die aufgrund ihrer Machart damals als Zäsur in der britischen Theatergeschichte galten. Das vierte dieser fünf trägt den Titel "Gier" und thematisiert die Gier nach Liebe. Christopher Rüping hat sich dieses Stückes angenommen und es neu inszeniert. Die Neuinszenierung ist nun auch in Berlin am Deutschen Theater zu sehen.
"Du bist tot für mich". So lautet der erste Satz in Sarah Kanes Stück "Gier". In Christopher Rüpings viel gerühmter Zürcher Inszenierung des Textes, die jetzt im Deutschen Theater in Berlin gespielt wird, schleudert ihn ein Schauspieler aus der ersten Reihe auf die Bühne. Denn die Bühne selbst, sie gehört an diesem Abend vorrangig Wiebke Mollenhauer.
Vollkommen stumm sitzt sie hier auf einem einfachen Stuhl. Nur ihr Gesicht wird in gigantischer Großaufnahme auf eine Leinwand übertragen. Die vier Schauspieler:innen, die zunächst im Publikum sitzen, liefern die Worte zu Mollenhauers Mimik, zu dem, was in ihrem Innern und dann in ihrem Gesicht geschieht. Oder ist es umgekehrt? Spiegelt ihre Mimik das, was ihr die Stimmen zuwerfen? Ist es das Stimmengewirr in ihrem Kopf?
Symphonie der Verzweiflungslyrik
Viel mehr geschieht an diesem Abend nicht: Satzfetzen, Gefühlsfetzen – und ein Gesicht in Großaufnahme. Es gelingt nicht jedem im Publikum, sich auf dieses verstörende, geschmerzte Langgedicht über alle Formen der sogenannten "Liebe" einzulassen, von der Symbiose bis zur Vergewaltigung. Doch wer hineinfindet, der erlebt eine eindrückliche, konzentrierte Symphonie der Verzweiflungslyrik.
Denn mit welcher Präzision Wiebke Mollenhauer stumm auf den Text antwortet, das ist großes Einfühlungstheater – ohne Larmoyanz und zu viel Pathos. Was sie sich von den vier Stimmen anhören muss, umfasst eine breite Schmerzensklaviatur. Von einem Mädchen wird da erzählt, missbraucht von ihrem Großvater, während der Vater auf der Rückbank des Wagens sitzt. "Und obwohl sie sich nicht erinnern kann, kann sie nicht vergessen." Dann von einem Mädchen, das stundenlang schockgefriert, jedes Mal, wenn die Eltern sich streiten.
Sehnsucht, Sucht, Vermissen
Gefühle und Erinnerungen wirbeln durcheinander – oder sind es die Erinnerungen der Eltern, die sich vererbt haben? "Mein hohles Herz ist voll von Finsternis", heißt es. "Nichts schadet Ihrer Arbeit so sehr wie Selbstmord". "Ich bin kein Vergewaltiger. Ich bin pädophil." "Ich hasse den Geruch meiner eigenen Familie." "Ich habe nie einen Mann getroffen, dem ich getraut hätte." "Ich bin ein Gefühlsplagiator." "Das Rückgrat meines Lebens ist gebrochen." Verzweiflung und Grausamkeit sind darin zu finden, und gleichermaßen so viel kindliche Sehnsucht nach Geborgenheit. So viel Leiden an der eigenen Existenz.
Der Originaltitel "Crave" passt deutlich besser zu diesem vorletzten Text der Britin Sarah Kane, bevor sie sich mit 28 Jahren das Leben nahm. Denn in "Crave" schwingt körperliches Verlangen, Sehnsucht, Sucht, Vermissen mit. Und klingt doch fast wie "Grave", also "Grab".
Klänge wie Bombenexplosionen und Herzschläge
Wiebke Mollenhauer lässt alles in ihrem Gesicht leise aufblitzen: Angst, Wut, Verzweiflung, Rührung, Wärme, Panik, Trauer – und immer wieder ein spöttelndes, ironisches Lachen über die hochfahrend emotionalen Sätze. Die Grenzen sind fließend. Wenn Benjamin Lillie ihr etwa vollkommen nackt eine lange Liebeserklärung macht – herzerwärmend, leidenschaftlich zunächst, doch dann immer besitzergreifender, symbiotischer, verzweifelter, beängstigender.
Dazu schickt der Musiker Christoph Hart live Klänge über die Bühne, die mal wie Bombenexplosionen klingen, mal wie Herzschläge. Drei Streicherinnen lassen ultimative Liebeslieder wie "Love will tear us apart" anklingen, bevor das Ensemble ein augenzwinkerndes Medley aus schmachtenden Evergreens singt, von "You’re beautiful" bis "Forever Young".
Sprung in die düstere Spree
Aus den menschlichen Figuren werden später graue Monster mit Pappköpfen, die das Gesicht der stummen Frau nur noch mit roboterhaften Papphänden berühren. Die Stimmen martern sie immer weiter. Bis sie schließlich aufspringt und die Leinwand niederreißt. Die Kamera rennt ihr live durchs schneebedeckte Berlin nach, bis Wiebke Mollenhauer bei sage und schreibe -3 Grad Außentemperatur im Badeanzug lächelnd in die Spree steigt. Im Zürichsee wirkte dieses Eisbad sicherlich deutlich stärker, wie ein Akt der Befreiung. Ein Sprung in die düstere Spree aber – das traut man in Berlin eigentlich nur Selbstmörder:innen zu. Und doch ist es ein im wahrsten Sinne erfrischendes Ende eines Abends, der sich damit aus seinem geschmerzten Kopfinnenraum herausschält.
Barbara Behrendt, radio3