Gorki Theater: Carmen © Ute Langkafel MAIFOTO
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Maxim Gorki Theater - "Carmen" nach Georges Bizet

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Carmen - dieser Name steht für Femme Fatale, Freiheit, Verruchtsein und Flamenco. Für eine stolze und starke Frau mit Feuer und Leidenschaft. Dass diese Attribute dem Namen Carmen zugeschrieben werden, ist vor allem George Bizet zu verdanken. Seit der Uraufführung seiner gleichnamigen Oper im Jahr 1875 gilt "Carmen" als die meistgespielte Oper der Welt und die Titelheldin als Opernikone. Gestern hatte die neue "Carmen"-Produktion am Maxim Gorki Theater unter der Regie von Christian Weise Premiere.

Wie eine Dragqueen sieht sie aus, diese Carmen, diese Femme Fatale der Operngeschichte: grell pinkes Flamencokleid, pinke Perücke, Rüschen – darunter der Körper eines Mannes, Lindy Larsson. Der, wie wir spätestens seit dem Gorki-Hit "Slippery Slope" wissen, fantastisch Musicalsongs singen kann und zudem zur Roma-Community gehört. So wie Riah Knight, ebenfalls Romni – mit ebenso guter Stimme.

In Christian Weises "Carmen"-Dekonstruktion am Maxim Gorki Theater spielt nun Larsson die mit Roma-Klischees aufgeladene Carmen, während Riah Knight mit weißen Zöpfen bis zum Boden Micaëla geben darf, die Unschuld vom Lande.

Carmen reicht's

Carmen ist hier nicht nur die Hauptfigur der einzelnen Inszenierung, sondern eine Carmen, die schon seit Jahrhunderten auf der Bühne steht, seit Jahrhunderten Klischees reproduziert und seit Jahrhunderten vom eifersüchtigen José ermordet wird. Jetzt reicht’s ihr.

Mitten in der "Habanera", dem Klassiker von der Liebe, frei wie ein Vogel, bricht Lindy Larsson das Singen ab und räuspert sich: "I want to talk to you!", spricht er das Publikum an:

"Auf meine alten Tage habe ich realisiert, dass ich nicht gewinnen kann", sagt er auf Englisch. "Einerseits werde ich verurteilt, ein sexistisches Konstrukt zu sein, andererseits eine frühe Gallionsfigur der freien Liebe. Ich war meiner Zeit voraus. Obwohl meine Väter sich das anders erdacht haben."

Ihre literarischen und musikalischen Väter, Prosper Mérimée und Georges Bizet, hätten Carmen vielmehr als abschreckendes Beispiel der exotischen Frau imaginiert, die Männer ins Verderben stürzt. Carmens Geschichte wird auf der Bühne nun zwar trotzdem so erzählt, wie wir sie kennen: Carmen, die sich in der Tabakfabrik mit den anderen Frauen anlegt und dann den Soldaten José bezirzt. José, der seine Verlobte für Carmen verlässt. In ihrer Freiheitsliebe bandelt Carmen mit einem Torero an – und José bringt sie aus Eifersucht um.

Aus der Tragödie wird Slapstick-Comedy

Doch die Tragödie wird hier, wie immer beim Regisseur Christian Weise, als Slapstick-Comedy verulkt. Bei ihm stehen wenige Menschen auf der Bühne, aber viele Comic-Figuren, die ihre Charaktere parodieren. Via Jikeli etwa spielt José als einen derart treudoofen, patriotischen Mitläufer, angelehnt an die Carmen-Parodie von Charlie Chaplin, dass man sich von Anfang an fragt, was die abgebrühte Dragqueen Carmen mit so einem prüden Langweiler will.

Kein Wunder, dass sie selbst die Beziehung schnell infrage stellt: "Wir stehen an den Extremen des Liebesspektrums: Freiheit und Abhängigkeit. Du kannst mit meiner Freiheit nicht umgehen – und ich nicht mit deiner Besitzgier".

Der Regisseur schafft also die größtmögliche Distanz zu den Figuren und baut mit neuen Texten von Lindy Larsson und Riah Knight eine Reflexionsebene ein. Carmen tritt aus ihrer Rolle heraus, beleuchtet das Geschehen – und hat mit allem Recht: damit, dass sie am Ende sterben muss, damit die männliche Ordnung der Welt wiederhergestellt ist. Damit, dass José als Opfer dargestellt wird: der brave Mann, der von der freiheitsliebenden Frau zum Femizid getrieben wird.

Aufführung con "Carmen" im Gorki Theater. (Quelle: Gorki Theater/Ute Langkafel)
Bild: Gorki Theater/Ute Langkafel

Graphic-Novel-Ästhetik

Die Ästhetik passt bestens zur Parodie. Vorneweg die schrillen Kostüme von Lane Schäfer: Micaëla trägt als Unschuld vom Lande so lange weiße Zöpfe, dass sie über den Boden schleifen. Die Brüste der Frauen sind so groß und spitz wie Schultüten. Die Soldaten stolpern in Grellgelb herum. Und die schneeweiße Bühne von Julia Oschatz bedient das Comic-Konzept. Auf den herumstehenden Rotunden erscheinen in Comic-Schrift Orts- und Szenenbeschreibungen, Kommentare oder Landschaften. So, als hätte man tatsächlich eine Graphic-Novel aufgeschlagen.

Der Abend wird von der mitreißenden Musik getragen

Die gewaltige Oper mit den großen Chören hat Jens Dohle wunderbar für drei Musiker arrangiert und auf ein Streichinstrument, Akkordeon, Schlagwerk und Klavier reduziert. Das geht mal in Richtung spanisches Volkslied, mal Richtung Chanson oder Schlager, stets die Original-Melodien zitierend. Die Musik ist es denn auch, die den Abend trägt. Die Lieder sind derart mitreißend und, vor allem von Lindy Larsson, so warm und süffig gesungen, dass man seiner queeren Carmen durchweg an den Lippen hängt.

Das hilft denn auch darüber hinweg, dass dieser kurzweilige, schmissige Abend intellektuell schmal gerät. Absolut richtig, dass der Opern-Kanon mit Stimmen aus der Roma-Community mit feministischen und antirassistischen Texteinsprengseln befragt wird – aber muss es wirklich derart didaktisch formuliert sein? Der moralische Impetus, mit dem hier die Abschaffung von "Carmen" gefordert wird, ja, mit der Carmen ihren ewigen Bühnentod fordert, wirkt doch arg simpel – während sich die Inszenierung gleichzeitig an der schönen Musik berauscht.

Barbara Behrendt, radio3

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