Deutsche Oper Berlin - Staatsballett Berlin: "SAABA / Minus 16"
Die erste Saison von Christian Spuck als Intendant des Berliner Staatsballetts war äußerst erfolgreich: in der bundesweiten Kritikerumfrage wurde das Staatsballett als Kompanie des Jahres ausgezeichnet und die Auslastung lag bei mehr als 98 Prozent. Ob sich diese Erfolgsgeschichte nun fortsetzt?
Gestern Abend war Premiere in der Deutschen Oper Berlin, die erste der neuen Saison. "Minus 16" heißt der Doppelabend mit Choreographien von Ohad Naharin und Sharon Eyal, beide aus Israel.
Außergewöhnliche Momente
Und es gab an diesem Premierenabend Momente, in denen die aktuelle Situation in Israel, der Krieg in Nahost, das Tanzgeschehen auf der Bühne zu überlagern, zu dominieren schien, etwa wenn im Stück von Ohad Naharin ein hebräisches Volkslied und ein traditionelles Pessachfestlied erklingen und von den Tänzerinnen und Tänzern teilweise mitgesungen werden.
Ein weiterer Erfolg für das Staatsballett
Ansonsten dürfte auch dieser Doppelabend ein Erfolg für das Staatsballett werden, es dürfte sich schnell herumsprechen, dass hier viel Spektakel geboten wird. Zum einen wieder der Roboter-Tanz von Sharon Eyal, "Saaba" ist bereits ihr viertes Stück beim Staatsballett, gleich das erste "Half Life" ist immer noch ein Publikumsrenner. Und dann gibt es mit "Minus 16" von ihrem früheren Mentor Ohad Naharin ein Stück, dass die Zuschauer zu Begeisterungsstürmen verführt hat.
Cyborgs und Tanzmaschinen – das Jahr 2021
Sharon Eyal schickt in "Saaba" die Tänzerinnen und Tänzer wieder als ruckelnde, zuckende Cyborgs auf die Bühne, als scheinbar emotionslose Tanz-Maschinen, die wie aus einer Sci-Fi-Zukunft bei uns gelandet sind. Dieses Stück stammt aus dem Jahr 2021 und wirkt mitunter wie eine Reaktion auf die Corona-Pandemie, auf die Lockdowns, die Ängste, das Weggesperrtsein, die schweren Erkrankungen. Immer wieder fassen sich die Tänzer an den Hals, ihre Körper scheinen nach Luft und Raum zu ringen. Sie greifen wie in Fassungslosigkeit an die Stirn, spreizen wie in einer Geste der Verunsicherung eine Hand zur Seite weg oder zeigen eine Geste der Unschuld, die Arme am Körper entlang gestreckt, die Hände nach vorn geöffnet. Das sind allerdings nur kleine narrative Elemente – der Rest ist wieder Sharon Eyals Maschinentanz.
Maschinentanz im Maschinenraum der Technomusik
Das ist ihr äußerst künstlicher, expressiver Tanz. Entweder trippeln und rutschruckeln die Tänzer auf den Ballen der Füße in Minischritten über die Bühne, die Körper dabei in Vollanspannung, die Hände zu Fäusten geballt vor der Brust oder in den Schritt gestemmt, Schultern und Hüften rucken mechanisch auf und ab, das Kinn wird hochgereckt. Oder die Körper werden vollständig überdehnt und überstreckt, so viel die Gelenke nur hergeben: Beine, Arme, Oberkörper in den Hüften alles wird extrem weit ausgespreizt – ein Maschinen-Tanz zu Musik aus dem Maschinenraum, Pop und Techno sehr basslastig und rhythmisch.
Im Vergleich mehr Formen und Variationen
Das ist das übliche Bewegungsmaterial von Sharon Eyal, monoton wiederholte, mechanisch-technoide Bewegungen, aber in diesem Stück im Vergleich zu den anderen doch mit mehr Variationen und Formen, mit Tänzerinnen, die seitwärts wie auf dem Fließband über die Bühne zuckeln, die sich zu Gruppen zusammenballen und zu Linien und V-Formen auffächern.
Das ist ein extrem herausfordernder Tanzstil, sehr schwer umzusetzen und das gelingt den Staatsballetttänzern am Premierenabend nicht immer in der nötigen absoluten Präzision. Das ist jedoch verständlich und das Stück ist ohnehin außergewöhnlich – die Ungenauigkeiten fallen nicht weiter ins Gewicht.
"Minus 16" – Ohad Naharin und Sharon Eyal
Bei "Minus 16", dem Stück von Ohad Naharin ist teilweise zu sehen, woher Sharon Eyals Stil stammt. Sie war lange Zeit Tänzerin in der berühmten Batsheva Dance Company, als Naharin die Company zu Weltruhm geführt hat. Eyal hat bei Batsheva ihre ersten Stücke choreographiert und war später Hauschoreographin und in den Körperverkrampfungen und eck-kantigen Ausstülpungen bei Naharin sind minimale Ansätze von Sharon Eyals heutigem Stil zu sehen. Insofern war es eine gute Idee, beide Stücke gemeinsam an einem Abend zu präsentieren.
Etwas in die Jahre gekommen - Minporträts
"Minus 16" stammt aus dem Jahr 1999 und es wirkt etwas in die Jahre gekommen. Heute würde man die mehr als 20 Tänzer nicht mehr auf Stühle im Halbkreis setzen und es gäbe auch nicht diese persönlichen Selbstvorstellungen, wie Naharin das hier und ähnlich auch in anderen Stücken macht. Wir sehen ausbruchsartige Solo-Variationen von den Tänzern und hören kurze Sätze von ihnen: Vera erzählt, dass ihre Bolschoi-Ballett-Primaballerina-Mutter sich lange geweigert hat, zu ihren Aufführungen zu kommen. Matthew erzählt, wie gut sein Ehemann kochen kann und Cohen, dass er Problem damit hat, mit Menschen zu sprechen, aber im Tanz alles einfach für ihn sei. Das sind charmante Miniporträts der Tänzerinnen und Tänzer.
Die Überraschung am Ende von "Minus 16" – pure Lebensfreude
"Minus 16" beginnt recht ernst: Die Tänzer agieren auf ihren Stühlen zum hebräischen Volkslied "Hava Nagila" und zu einem traditionellen jüdischen Pessachlied als müssten sie sich aus Enge und Zwang befreien und sie reißen sich dann auch die schwarzen Anzüge vom Leib. Nach den Mini-Selbstporträts kommt dann die wirkliche Befreiung in pure Lebenslust und Lebensfreude und pure reine Tanzfreude. Und das hat mit Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Bühne zu tun ... mehr soll hier nicht verraten werden ... das gemeinsame Schwofen sollte man selbst erleben.
Dieses Stück von Ohad Naharin gehört nicht zu seinen wichtigsten, aber es macht einfach Spaß. Es gab frenetisch-begeisterten Applaus vom Publikum und die Tänzer wirkten rundum glücklich. Für das Staatsballett und für Intendant Christian Spuck dürfte das der nächste Erfolgsabend werden.
Frank Schmid, radio3