Anne Teresa De Keersmaeker: Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione © Anne Van Aerschot
Anne Van Aerschot
"Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione" | Bild: Anne Van Aerschot Download (mp3, 10 MB)

"Performing Arts Season" im Haus der Berliner Festspiele - Anne Teresa De Keersmaeker: "Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione"

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Die Natur und das Verhältnis von uns Menschen zur Natur – das ist das große Thema des neuen Tanzstückes der belgischen Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker, gemeinsam entwickelt mit ihrem Co-Choreografen Radouan Mriziga. Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten" sind der Ausgangspunkt der Choreografie, die am Wochenende als Deutsche Erstaufführung im Rahmen der "Performing Arts"-Saison der Berliner Festspiele zu sehen war.

Es ist ein kraftvoller Abend: erfindungsreich, vielgestaltig und störrisch. Ein Abend, der seine Vitalität vor allem aus den Widersprüchen gewinnt. Wer erwartet hatte, de Keersmaeker würde zu Vivaldis Barock-Superhit ein schwelgerisches Natur-Mensch-Harmonie-Spektakel zeigen, sah sich von Beginn an enttäuscht.

Kraftvoll, erfindungsreich und voller Widersprüche

Es hat sehr lange gedauert, bis die erste Vivaldi-Musik überhaupt zu hören war. Bis dahin hat ein einzelner Tänzer in Stille und in unangenehm diffusem, orangefarbenem Licht ein von Widerspenstigkeit strotzendes Solo getanzt, ein unzugänglicher, kaum verständlicher Tanz, sehr irritierend, wie auch das Blitzlichtgewitter der Neonleuchten ganz am Anfang.

Antonio Vivaldis Musik – gepfiffen und gesteppt

Der Auftakt dieses 90-Minuten-Abends ist sperrig, zumal in den langen Zeiten der Stille immer nur einzelne Motive, kurze Ausschnitte der Vivaldi-Musik zu hören sind, erst spät gibt es alle vier Konzerte vollständig. Zwischendrin wurde die von den vier Tänzern gepfiffen und mit Steppschritten in den Boden gestampft - die erste eingängige und lustige Szene, vom Publikum dankbar angenommen.

Anne Teresa de Keersmaeker und Mriziga, sie Jahrgang 1960, er Jahrgang 1986 und einst ein Schüler an der PARTS-Schule von de Keersmaeker, spielen mit den Assoziationen und Gefühlen, die Vivaldis Musik auslöst und sie inszenieren im zweiten Teil des Abends einen vollen Kreislauf der vier Jahreszeiten, beginnen aber mit dem Herbst und der Kreislauf wirkt gestört, der Tanz zerfleddert. Der Mensch zerstört die Natur, deren Teil er ist, so die Botschaft. Gibt es in unseren Breiten überhaupt noch vier Jahreszeiten, so die Frage der beiden.

Harmonie zwischen Mensch und Natur, wie sie in Vivaldis Musik zu hören ist, gibt es im Stück nur selten und das ist nur eine der Widersprüchlichkeiten dieses Stückes.

Widersprüchlichkeiten

Auf der Bühne sind vier Tänzer, vier Männer in Sportdress und bunten Chiffonstoffen und einer davon ist ein hervorragender Breakdancer. Mit seinen Querläufen und seiner Bodenakrobatik, seinen Drehspins auf dem Rücken oder dem Kopf ist er wie ein freier Radikaler, eine irrlichternde Störung. Es gibt also im Tanz diese Störungen und Brechungen und im Umgang mit der Musik. Und auch in der Bildhaftigkeit des Stückes: die vier zwitschern nämlich auch wie Vögel, schnauben wie Pferde, bellen wie Hunde, sie sind schießende Jäger und gejagtes Wild. Sie schwingen die Arme, als würden sie Sensen durch das Gras ziehen oder Heu auf den Scheunenboden heben. Aber sie drehen und wirbeln und spreizen die Glieder auch in völliger Abstraktion, zeigen dann also keine bildhaft-erzählerischen Bewegungen.

Harmonie, Ordnung, Schönheit

Und in den schönsten Passagen, in den erhofften, typischen de Keersmaeker-Tanzpassagen laufen die vier ganz schlicht und synchron rückwärts und vorwärts in Achten über die Bühne und schwingen dabei sanft die Arme in Hüfthöhe. Da ist der Tanz auf einmal in wunderbarer Klarheit, Ordnung und Harmonie, in endlosen Achten dahinfließend zur singenden, zwitschernden, lieblichen Vivaldi-Musik.

Der typische de Keersmaeker-Tanz, mit dem sie Anfang der 80er Jahre berühmt geworden ist. Minimal-Dance, anfangs auch zu Minimal-Music von Steve Reich, zuletzt zu Johann Sebastian Bach – großartige Choreografien, ihr Werk war in Berlin seit Ende der 80er nahezu vollständig zu sehen. Schlichte Klarheit in geometrischen Formen: Kreise, Spiralen, Ellipsen - Ordnung und Harmonie und Schönheit in Komplexität. Als Zuschauer kann man genießerisch schwelgen – aber das gibt es bei diesem Stück nur dieses eine Mal.

Alles findet zueinander

Alle Widersprüchlichkeiten, unterschiedlichen Haltungen, Erzählweisen, Tanzstile finden am Ende dann doch zusammen, ergeben ein Ganzes. Dieses Stück ist hermetisch-formal und bildlich wie akustisch simpel-eingängig, fast vordergründig und es schwelgt in Harmonieseligkeiten und es gibt kühle Abstraktion und jubilierende Lebensfreude. Gerade diese Vielgestaltigkeit wirkt am Ende ungemein temperamentvoll und leidenschaftlich.

Das ist im Prinzip hochdramatisches Theater, wie die Musik von Vivaldi in ihrer Beschreibung der Natur auch eine Form von Theater ist. Das Publikum hat zu Recht mit Standing Ovations gejubelt.

Frank Schmid, radio3

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