Berliner Ensemble: Pick Me Girls © Jörg Brüggemann
Jörg Brüggemann
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Berliner Ensemble - "Pick Me Girls" von Sophie Passmann

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"Ich bin nicht so wie andere Frauen." Der Satz gilt als typisch für sogenannte Pick me Girls. Das sind Mädchen und junge Frauen, die gern von sich behaupten, "anders als andere Frauen" zu sein. Das sagen sie allerdings nicht, um ihre Individualität zu betonen, sondern, um Männern zu gefallen. Kein Wunder, denn für viele Frauen ist von klein an das Begehrt- und Bewertetwerden durch Männer auch heute noch eine alltägliche Erfahrung. In ihrem Essay "Pick me Girls" stellt Sophie Passmann die sehr persönliche Frage, wie ihr Leben wohl ohne diesen männlichen Blick verlaufen wäre. Gemeinsam mit der Regisseurin Christina Tscharyiski hat Sophie Passmann aus dem Buch ein Theaterstück gemacht.

Was für ein kultiger Auftritt, findet Sophie Passmann als sie zu Taylor Swifts Superhit "Anti-Hero" und tosendem Fan-Applaus durch den Glitzervorhang auf die Showbühne im Berliner Ensemble kommt und sich neben das große Podest, eine verspiegelte Venus-Muschel, stellt. Große Gesten, große Posen – in jeder Sekunde ironisch gebrochen.

Und weil Sophie Passmann ihren Auftritt, die Performance, das Timing, den Wechsel zwischen scharfen Pointen und Nachdenklichkeit beherrscht wie ein Bühnenprofi, gelingt diese Stand-Up-One-Woman-Show so viel besser als ihr Buch "Pick Me Girls", das dem Theaterabend als Vorlage dient. Wo das Buch redundant und larmoyant wirkt, spitzt die Bühnenfassung zu – und lebt von Passmanns Stimme, ihren sprechenden Gesichtsausdrücken und den kleinen Rollenspielen mit sich selbst, die sie mit der Regisseurin Christina Tscharyiski entwickelt hat.

Berliner Ensemble: Pick Me Girls © Jörg Brüggemann
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Das Phänomen "Pick Me Girls"

Es geht an diesem Abend längst nicht nur um "Pick Me Girls" – aber eben auch. Ein "Pick Me Girl" ist eine Frau, die alles dafür tut, Männern zu gefallen, und daher sehr damit beschäftigt ist, anders zu sein als andere Frauen. Passmann zieht dieses Phänomen heran, um zu zeigen, wie ihrer Meinung nach die Welt im Patriarchat funktioniert. Frauen wissen, wie wichtig männliche Aufmerksamkeit ist – und sie wissen auch, dass Männer Frauen tendenziell schlecht behandeln, zu anstrengend finden und abwerten: "Männer hassen Weiblichkeit, aber sie brauchen Frauen."

Deshalb beginnen Frauen, sich selbst und andere Frauen zu hassen und abzuwerten. Die Lösung: Sich einreden, dass man ja gar nicht zu "diesen Frauen" gehört und "ganz anders" ist. "Frauen sind immer wahnsinnig hysterisch, Männer sind einfach viel entspannter?! Bitch, schlag mal irgendeine Seite eines Geschichtsbuchs auf. Klar, Männer, wahnsinnig entspanntes Geschlecht", so Passmann.

Passmann kritisiert Männer und das Patriarchat – lässt aber die Frauen nicht außen vor

Passmann kritisiert Männer und das Patriarchat – lässt aber die Frauen nicht außen vor. Sie zeigt die Misogynie unter Frauen, die sich gegenseitig als "Pick Me Girls" beschimpfen oder als Frauen mit "Daddy Issues" - so, als habe man sich das ausgesucht, als sei es keine Folge der Gesellschaft, die so ist, wie sie ist.

Der Abend kreist um den eigenen Körper und den männlichen und weiblichen Blick darauf: Wie wird er angesehen? Wie wird ein Norm-fremder Körper behandelt? Welchen Raum bekommt er?

Mit Taylor Swifts "Anti-Hero" hat Passmann die richtige Hymne gewählt: "It's me, hi, I'm the problem, it's me", heißt da der Refrain. Passmanns autobiografischer und persönlicher Text handelt vom Gefühl, im falschen Körper auf die Welt gekommen zu sein, nicht richtig zu sein, schlechter zu sein als alle anderen. Um irgendwann festzustellen, dass es den meisten Frauen ähnlich geht.

Da ist etwa die Geschichte, die in Passmanns Familie jahrelang zum Besten gegeben wird, wenn Besuch kommt: Sophie, die schon als Baby so dick war, dass sie nicht in die Strampler gepasst hat. Dieses "falsch sein", zu viel Raum einnehmen, zieht sich bis in die Umkleidekabinen von H&M als Teenager, bis zu Bildern auf Tumbl.com, die ihr eine Essstörung bescheren, bis zur inneren Isolation und ins Pick-Me-Girl-Verhalten. Zu dem übrigens auch der narzisstische und zugleich masochistische Irrglaube gehört, Männer, die sich keine Mühe geben, "gesund lieben" zu können.

Ein nachdenklicher und empowernder Abend

Manches wird arg ausgewalzt, etwa die Geschichten über die Erniedrigung, wenn dünne Menschen für dicke Menschen Fotoshootings organisieren. Manches ist kontrovers: Wenn sie vom Shitstorm auf ihre Aussage erzählt, mit 20 darunter gelitten zu haben, nicht sexuell belästigt worden zu sein, sondern übersehen.

Weil Sophie Passmann eine fabelhafte Performerin ist, gelingt es ihr, mit dem Publikum eine eingeschworene Gemeinschaft zu bilden. Sie reagiert auf ihr Publikum – und berührt es auch. Wenn sie an der Rampe sitzt, in den erleuchteten Zuschauerraum schaut und sagt, wie einsam es in dieser Welt doch ist ohne die Frauen, die wir alle hätten werden können, wie gut aber doch auch die Frauen sind, die wir trotzdem geworden sind. Abseits aller Pointen ist es ein nachdenklicher und empowernder Abend, bei dem das Publikum zuletzt nichts mehr in den Sitzen hält.

Am Ende gibt es standing Ovations – auch von Männern, für die dieser Abend übrigens besonders geeignet ist. So schreibt es Passmann in ihrem Vorwort. Man kann, sagt sie, Frauen nicht aufrichtig respektieren, wenn man ihre Kultur nicht konsumiert, ihre Bücher nicht liest. Und: Ihre Theaterabende nicht anschaut. So wie Frauen das ganz selbstverständlich bei Theaterabenden von Männern tun.

Barbara Behrendt, radio3

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