Sylvie Schenk: Maman © Hanser Verlag
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Roman - Sylvie Schenk: "Maman"

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Sylvie Schenk ist eine Schriftstellerin, die 1944 in Frankreich geboren wurde, seit 1966 in Deutschland lebt und seit Anfang der 90er Jahre ihre Bücher auch auf Deutsch schreibt. Veröffentlichte sie lange Jahre eher im Verborgenen, erlangte sie 2016 mit einem Auftritt beim Bachmann-Wettbewerb größeres Aufsehen, als sie aus ihrem Roman "Schnell, dein Leben" las, einer autobiografisch inspirierten Familiengeschichte. Es folgten weitere autofiktionale Bücher. Ihr neuester Roman "Maman" steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Es muss Sylvie Schenk dann doch ein Bedürfnis gewesen sein, sich noch einmal sehr intensiv in einem Buch mit der eigenen Mutter auseinanderzusetzen, sie nicht in einem "Nichts" verschwinden zu lassen, wie sie in ihrem jüngsten, für den Deutschen Buchpreis aus der Longlist nominiertem Roman "Maman" schreibt. "Schreiben. Streicheln. Festhalten".

Auf der Suche nach der Mutter und ihren Wurzeln

Eine "letzte Umarmung" der Mutter sei das, wobei man von dieser in Sylvie Schenks Werk schon desöftern gehört hatte, wie zum Beispiel in dem 2016 veröffentlichten Roman "Schnell, dein Leben". Darin hat die 1944 in einer kleinen Stadt in den französischen Alpen geboren Schenk die Geschichte einer Frau zwischen Frankreich und Deutschland erzählt, eng an ihr eigenes Leben geschmiegt. Wie Louise, die Hauptfigur aus diesem Roman, studierte Schenk Mitte der 60er Jahre Altphilologie und Französisch in Lyon, lernte hier einen Deutschen kennen und lieben und ging mit diesem 1966 nach Deutschland.

Weil "Schnell, dein Leben" eine gewisse Atemlosigkeit innewohnt, bei knapp 160 Seiten geradezu naturgemäß, spielte die Mutter nur eine Nebenrolle. Immerhin erfuhr man von ihr, dass sie ein Geheimnis umweht, weil sie ein Adoptivkind ist und sich über ihre Herkunft lieber ausschweigt. Nun, einige Jahre und zwei weitere Romane später hat sich Schenk gezielt auf die Suche nach ihrer Mutter und deren Wurzeln gemacht, auch um den eigenen Frieden bezüglich ihrer Herkunft zu finden.

Dabei ist ihr bewusst, dass sie auf viele Fragen, die sie hat, nur selbst Antworten geben kann. Weshalb "Maman" trotz der autobiografischen Grundstruktur als Roman firmiert. (Schenk spricht von einem "Text").

Die Mutter, diese Unglückliche

Der Geburtsname ihrer Mutter sei Renée Gagnieux gewesen, hebt Schenk an, das habe ihre Schwester in den Archiven recherchiert. Als etwas "Hartes und Krummes und Hakeliges wie ein Fragezeichen" würde dieser Name in ihr stecken. So wie bei der Mutter. "In meiner Mutter selbst rumorte ihre unbekannte Mutter, Cécile Gagnieux, die sie verdrängt, verschluckt und nie verdaut hat. Sie hat nicht mal ihren Namen erfahren."

Sylvie Schenk will nun das nachholen, was ihre Mutter versäumt hat, diese Unglückliche, "die ihr Unglück nicht reflektieren konnte." Sie erzählt nicht nur das Leben von "Maman", sondern zunächst auch das von Cécile, der Großmutter. Wobei diese Erzählung mangels Informationen auf dem Totenbett stattfindet. Denn Cécile Gagnieux, die mit 13 Jahren angefangen hat, in einer Seidenfabrik zu arbeiten, die sich mutmaßlich prostituiert hat, die nicht zuletzt eine "alte Gebärende" ist, stirbt Ende Dezember des Jahres 1916 kurz nach der Geburt ihrer Tochter Renée im Hotel-Dieu, dem Krankenhaus von Lyon.

Renée aber ist gesund, kommt zu Pflegeltern in die Ardèche, wo es ihr nicht gut ergeht, mit der Folge, dass ein anderes Ehepaar sie umsorgt. Dieses behandelt sie nicht nur gut, sondern liebt Renée wirklich. Insbesondere die Mutter, eine gewisse Marguerite, die aus Toulouse stammt und eine belesene Frau ist, besonders die Schriftstellerin Colette hat es ihr angetan.

Marguerite wird als Adoptivmutter und spätere Großmutter der kleinen Sylvie zu dieser sagen: "Du bist eine Leseratte, das hast du von mir geerbt, mein Kind, so wirst du auch meine Bibliothek erben, auch die Romane von Colette, ich hoffe, Kind, dass du bis dahin gepflegter mit Büchern umgehen wirst."

Eine sacht-vorsichtige Annäherung

Nach und nach und mit einigen Rückblenden und zeitlichen Sprüngen entfaltet Schenk in kurzen Kapiteln das Leben ihrer Mutter, so wie sie es aus Akten kennt, wie sie es dann selbst später erfahren hat. Von der Schule, auf die Rénee geht, über die Bekanntschaft mit einem Zahnarzt, der sie umwirbt und den sie heiratet, bis zu den fünf Kindern, die sie zur Welt bringt.

Es ist eine sacht-vorsichtige Annäherung, die Schenk ohne abrechnen zu wollen, aber durchaus mit Kritik am Wesen der Mutter vornimmt, an deren Steifheit, Verschlossenheit und Gleichgültigkeit: "Überhaupt vernehme ich aus ihrem ganzen Leben ein tiefes, andauerndes Grollen." Als Opfer der Umstände porträtiert sie sie mitunter, der Zeit, der Umstände, der jeweiligen Milieus. Was wiederum ihrer jüngsten Schwester nicht gefällt, im Gegensatz zu einer anderen der Schwestern, die gar nichts Gutes über die Mutter zu berichten weiß.

Schenk schafft auf diese Weise eine Vielstimmigkeit, die ihr hilft, die Mutter besser zu fassen und charakterlich auf den Punkt zu bringen, bis hin zu einem "Fauxpas", einem Seitensprung. Man merkt kaum, wenn sie Lücken womöglich fiktiv anreichert: Schenk ist eine Meisterin des autobiografischen Schreibens, der Autofiktion.

Wenn eine ungleich berühmtere Kollegin wie Annie Ernaux mitunter das Soziologische erst recht ausarbeitet, legt Schenk über das Leben ihrer Mutter, bei allem Wissen um die Lebensumstände, doch lieber ein wenig Poesie, poetische Motive wie blaue Augen, eine Puppe, ein Hochzeitskleid oder einen Prinzessinnentraum.

Eine Feier der Literatur

"Du darfst alles aufschreiben, ich weiß, dass du es aufschreiben wirst", soll Maman schließlich auf dem Sterbebett gesagt haben. Vielleicht hat Sylvie Schenk nun wirklich Frieden mit ihr, mit sich und der eigenen Herkunft geschlossen. Am Ende ging es ihr aber auch noch um mehr: um das Schicksal ihrer Schwestern und ihr, über denen der Fluch dieser Herkunft liegt. Sie erfuhren von der Mutter nicht unbedingt Unterstützung, als sie alle jeweils ungewollt schwanger wurden, geschweige denn von den jeweiligen Männern, die sie allesamt verließen.

Das letzte Kapitel ist dann auch Cécile gewidmet, der Großmutter, die womöglich, hier gleitet Schenk wieder schön ins Fiktive, sie alle gesehen hat, ihre Tochter Renée, deren Töchter Aline, Pauline, Sylvie und Lisa, sowie zumindest dann Lisas ausgetragene Tochter Flore. Es ist dies eine Feier des Lebens am Ende, des weiblichen zumals, so wie Schenks Roman eine Feier der Literatur ist, ein Buch, das allemal an die Mutterbücher der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux heranreicht.

Gerrit Bartels, rbbKultur