Annie Ernaux: Die leeren Schränke © Suhrkamp
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Erstlingswerk der Literaturnobelpreisträgerin - Annie Ernaux: "Die leeren Schränke"

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Als die französische Schriftstellerin Annie Ernaux letztes Jahr den Literaturnobelpreis erhalten hat, war sie nicht unbedingt jedem in Deutschland ein Begriff. Ganz anders als in Frankreich, wo sie schon seit Jahrzehnten zu den bekanntesten und renommiertesten Autorinnen zählt. Heute erscheint im Suhrkamp Verlag die erste deutsche Übersetzung ihres Erstlingswerks "Die leeren Schränke" aus dem Jahr 1974.

Eine junge Frau windet sich vor Schmerzen auf ihrem Bett im Studentenwohnheim. Sie hat eine illegale Abtreibung vornehmen lassen, im Frankreich der frühen 60er Jahre. Sie leidet allein und ohne Trost in ihren sonst so verehrten Büchern finden zu können:

"Ätzend. Nichts über mich, über meine Situation, kein einziger Text, der beschreibt, was ich durchmache, nichts, was mir hilft, das hier zu überstehen. Zu jedem Anlass gibt es Gebete, Geburt, Hochzeit, Tod, da sollte es auch Texte zu allen Themen geben, zum Beispiel zu einer Zwanzigjährigen, die bei der Engelmacherin war, dazu, was sie auf dem Rückweg denkt und in dem Moment, als sie sich auf ihr Bett wirft. Das würde ich lesen, immer wieder. Darüber schweigen die Bücher."

"Ätzend. Nichts über mich, über meine Situation, kein einziger Text, der beschreibt, was ich durchmache, nichts, was mir hilft, das hier zu überstehen. (...) Darüber schweigen die Bücher."

Bücher, die es so noch nicht gab

Annie Ernaux hat das geändert. Bis heute schreibt sie über das, was damals noch nicht in Büchern stand. "Die leeren Schränk" ist Ernaux‘ erster veröffentlichter Text. Geschrieben 1973, veröffentlicht 1974 im großen französischen Verlag Gallimard. Da war Annie Ernaux 34 Jahre alt, Mutter zweier Kinder und Gymnasiallehrerin. Sie schrieb zu Hause heimlich an diesem sehr persönlichen Text, der schon vieles von dem beinhaltet, was das Werk der künftigen Literaturnobelpreisträgerin prägen sollte: Das Verweben ihrer persönlichen Geschichte, ihrer Familie, mit den großen gesellschaftlichen Missständen, der Diskrepanz zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeitermilieu und elitärer Mittelschicht, dem Machtgefälle zwischen Frauen und Männern, unterdrückter Sexualität und institutionalisierter Doppelmoral.

Hier versteckt sie sich noch hinter dem Namen Denise Lesur. Fast 30 Jahre später wird sie die Geschichte ihrer Abtreibung nochmal erzählen und nennt sich Annie, in ihrem gefeierten Roman "Das Ereignis".

Ein furioser innerer Monolog

In einem furiosen inneren Monolog reißt die junge Annie Ernaux die Leser mit in ihre zugleich sprunghaften und doch kunstvoll strukturierten Gedanken, sie scheint mal zu flüstern, mal zu brüllen, mal nüchtern mit Distanz auf sich selbst zu blicken:

"Ich bin und bleibe ein Flittchen. 'Du sollst Mutter und Vater ehren.' Die Zeiten waren vorbei. Aber nicht, weil sie böse waren oder zu streng, das war das Schlimmste. Ich sprach mit niemandem darüber, aber ich hatte gelernt zu vergleichen, in der Schule, beim Schaufensterbummel in der Innenstadt, aus Büchern. Es gab anständige Leute und alle anderen. Ab dem Alter von zwölf Jahren hatte ich meinen eigenen Maßstab, mein eigenes Raster. Anständige Leute haben ein Auto, eine Aktentasche, einen Regenmantel, saubere Hände. Sie sind redegewandt, egal wo, egal wann. Am Postschalter, mit lauter Stimme: 'Unfassbar! Dass man hier so lange warten muss!' Mein Vater hingegen protestiert nie. Selbst wenn er stundenlang warten muss. Auf alles eine Antwort, die anständigen Leute."

Zerrissen zwischen Tresen und Universität

Denise ist zerrissen, seit sie zur Schule geht und ihre Begabung alle verblüfft, zerrissen zwischen ihrer proletarischen Herkunft und ihrem heiß ersehnten Ziel, ihrem Milieu zu entkommen, hin zu dieser scheinbar leuchtenden und besseren Welt der Bildung, der Universitäten, der Bourgeoisie, in der, wie sie denkt, die schlanken Mütter leise sprechen und Perlenketten tragen und nicht, wie ihre eigene Mutter, brüllend und schwitzend hinter einem Tresen stehen, eingepackt wie eine Leberwurst, wie sie es beschreibt, in ihren zu engen billigen Kleidern. Sie zerreißt sich zwischen der Liebe zu ihren Eltern und dem Hass auf sie. Der Hass scheint die einzige Möglichkeit, sich von ihnen und ihrem Milieu entfernen zu können:

"Wenn sie mich jetzt sehen könnten … 'Du wirst noch böse enden.' Wann haben meine Alten diese alte Prophezeiung das erste Mal ausgesprochen. Vor einem Monat hätte ich ihnen fast ins Gesicht geschleudert, dass ich schwanger bin, um die Katastrophe zu sehen, um zu sehen, wie sie blau anlaufen und einen Anfall kriegen, die alten Masken ständigen Unglücks, wie sie hysterisch schreien und ich vor Freude und Wut brülle, sie hätten es nicht anders verdient, ich hätte es ihretwegen getan, weil sie so sind, wie sie sind, hässlich, jämmerlich, proletenhaft. Ich habe kein Wort hervorgebracht. Ich muss allein klarkommen, sie hätten mich nur daran gehindert. Über solche Dinge kann ich nicht mit ihnen reden. Sie haben nie etwas mitbekommen … Sie haben alles für mich getan …"

Ein leider zeitloser Roman

Die ganze Wut über die Ungerechtigkeit dessen, was heute Klassismus genannt wird, kombiniert mit dem gesellschaftlichen Sexismus schleudert die junge Annie Ernaux kunstvoll ganz Frankreich entgegen. Und überträgt sie auf die Leser, denn Ernaux‘ Themen sind leider zeitlos. Es ist ein Glück, dass Annie Ernaux die Bücher, die sie nicht lesen konnte, selbst geschrieben hat und dieses Debüt nun endlich auch in Deutschland erschienen ist.

Irène Bluche, rbbKultur