Auf Rot steht die Ampel neben der schwarz-rot-goldenen Fahne der Bundesrepublik Deutschland © picture-alliance/ ZB/ Soeren Stache 
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Die Debatte mit Natascha Freundel, Nora Bossong und Armin Nassehi - Rücktritt statt Fortschritt? – Halbzeit der Bundesregierung

"Die AfD regiert in den Köpfen" (Nora Bossong)

Die Ampel-Koalition wollte Macht und Zukunft neu und besser gestalten: "Mehr Fortschritt wagen", ein "Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit", "Respekt" – das waren die Versprechen der neuen Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit. Zur Halbzeit der Ampel-Koalition ist eher von Rücktritt und Neuwahlen als von Fortschritt die Rede.

Im September 2021 sprachen die Schriftstellerin Nora Bossong und der Soziologe Armin Nassehi in unserer Debatte noch sehr wohlwollend, Bossong sogar "ziemlich euphorisch" über das Wahlergebnis. Jetzt sagen sie, dass die "Regierungspartei schlechthin im Moment die AfD ist" (Nassehi), denn "die AfD versteht es, in den Köpfen zu regieren" (Bossong). Das sei nicht nur auf die multiplen Krisen und Kriege der vergangenen zwei Jahre zurückzuführen. Was Bossong und Nassehi 2021 von der rot-grün-gelben-Regierung erwarteten, könnte vielleicht doch noch umgesetzt werden: Mehr Teilhabe, mehr Zukunft wagen. Mehr Agieren als Reagieren. Und ein Zusammenschluss aller demokratischen Parteien gegen anti-demokratische Kräfte.

Ich würde ja sagen, dass die Regierungspartei schlechthin im Moment die AfD ist. Die AfD setzt die Themen, die AfD setzt den Ton, die AfD setzt tatsächlich das, wogegen sich alle anderen abgrenzen wollen. Die Einen, indem sie auf Dreikönigstagsreden die Grünen zum Hauptfeind erklären, die Anderen, indem sie Migrationspolitik machen, von der wir wissen, dass sie in der Form nicht funktionieren wird.

Armin Nassehi

Die AfD versteht es, in den Köpfen zu regieren. Ein Machtwechsel kann nicht allein durch die Übernahme von Institutionen geschehen. Man muss die Themen, man muss die Gedanken, die Ideologien, den Mainstream setzen - auch wenn sie sich immer als Anti-Mainstream geben, aber sie schaffen ja selbst schon einen Mainstream. Ich finde das nicht erfreulich, aber ich muss sagen, das hat die AfD erfolgreich gemacht, da Kräfte zu bündeln, die vorher nicht wussten, dass sie zusammenpassen.

Nora Bossong
Armin Nassehi (© picture alliance/ Jens Krick Flashpic) und Nora Bossong (© Brost-Stiftung/ Christian Deutscher)
Armin Nassehi und Nora Bossong | Bild: picture alliance/ Jens Krick Flashpic || Brost-Stiftung/ Christian Deutscher

Gäste

Armin Nassehi, geboren 1960 in Tübingen, ist seit 1998 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Universität München und seit 2012 Herausgeber der Kulturzeitschrift "Kursbuch". Zu seinen jüngsten Büchern gehören "Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft" (2019), "Unbehagen. Theorie einer überforderten Gesellschaft" (2021) sowie "Gesellschaftliche Grundbegriffe" (2023, alle C.H. Beck). Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Schader-Preis 2021. Nassehi ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Deutschen Nationalstiftung und des Bayerischen Ethikrats sowie Mitbegründer des PEN Berlin.

Nora Bossong, geboren 1982 und aufgewachsen in Hamburg und Bremen, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, außerdem Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparatistik in Berlin, Potsdam und Rom. Sie ist Romanautorin, Lyrikerin und Essayistin. Zu ihren jüngsten Büchern gehören der Gedichtband "Kreuzzug mit Hund" (Suhrkamp, 2018), der Roman "Schutzzone" (Suhrkamp, 2019) sowie "Die Geschmeidigen: Meine Generation und der neue Ernst des Lebens" (Ullstein, 2022). Bossongs Bücher wurden vielfach prämiert, zuletzt 2020 mit dem Thomas-Mann Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis. Sie ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und Mitbegründerin des PEN Berlin.

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Debatte mit Natascha Freundel & Gästen - Der Zweite Gedanke

Hier wird nicht nur debattiert, hier wird auch zusammen nachgedacht. Über alles, was unser Miteinander betrifft. Bildung, Digitalisierung, Demokratie, Einsamkeit, Freiheit, Klima, Kultur, Städtebau, Visionen - die Themen liegen in der Luft, nicht erst, aber besonders deutlich seit der Corona-Pandemie. Jede Folge widmet sich einer Frage unserer Zeit. radio3-Redakteurin Natascha Freundel spricht jeweils mit zwei Gästen, die wissen, wovon sie reden. Philosophisch, aber nie abgehoben. Persönlich, aber nicht privat. Kritisch und konstruktiv. Hier soll es nicht knallen, sondern knistern. Immer auf der Suche nach dem zweiten, neuen Gedanken.