Philharmonie Berlin - Klavierabend mit Evgeny Kissin
1988 hat Evgeny Kissin beim Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker für Furore gesorgt. Da war er gerade 17 Jahre alt. Seitdem zählt er zu den gefeierten Stars der Klassikszene – und ist so gut wie nie zuvor.
Die Philharmonie ist nahezu ausverkauft – und das bei einem eher wenig spektakulären Programm. Am Beginn seiner Karriere war Kissin vor allem technisch beeindruckend. Seitdem hat er sich immer weiter in die Musik hineingearbeitet, und jetzt spielt die Technik bei ihm nur noch eine untergeordnete Rolle. Er hat sie, aber er wählt Musik, bei der die Intensität des Ausdrucks im Mittelpunkt steht.
So in Beethovens Sonate op. 90, selten außerhalb von Gesamtaufführungen zu hören. Ein harter, spröder erster Satz, dass man beim Hören blaue Flecken bekommt. Der zweite Satz, wärmer und freundlicher, aber Kissin bändigt den reinen Schönklang. Am Ende hört es einfach auf. Da steht eine Frage, und man denkt lange darüber nach. Bewegend.
Die Virtuosität vergessen
Chopin zählte immer zum Repertoire des Pianisten. Aber auch hier: Das vordergründig Virtuose spielt keine Rolle mehr. Die f-Moll-Fantasie führt aus einer Welt der Düsterkeit in einen Erzählstrom, der in Abgründe blickt und einen in die Musik hineinzieht, dass man alles um sich herum vergisst, fast schon magisch.
Und auch wenn Evgeny Kissin in Prokofjews zweiter Klaviersonate geschliffen scharf über die Tasten jagt, dass man Angst hat, sich zu verletzen, dominieren auch hier die Nuancen voller Farben und Melodien in den ruhigeren Momenten. Klanglich ein kleines Wunder.
Gilels, Richter, Kissin ...
Welch Entwicklung. Evgeny Kissin ist einen langen Weg gegangen vom überragenden Wunderkind zu einem der wichtigsten, bedeutendsten Pianisten derzeit. Er ist nie stehengeblieben, hat nie auf leicht errungenen Erfolg gesetzt, sondern immer weiter gefeilt und ist immer tiefer in die Musik eingedrungen.
In den Balladen von Brahms ist jeder Ton ein Ereignis, der Gesamtklang von Tiefe und Gewicht erfüllt. Das zeugt von höchster Durchdringung, und wenn man für eine interpretatorische Größe dieser Art Vergleiche sucht, muss man schon an Namen wie Emil Gilels oder Swjatoslaw Richter denken.
Ein großer Abend
Am Ende wird Evgeny Kissin mit stehenden Ovationen und selten zu hörendem Jubel gefeiert. Absolut verdient. Und auch bei den drei Zugaben, so kurz und knapp er sie wählt, glitzern die Diamanten. Eine Chopin-Mazurka (op. 67 Nr. 4) einfach und rührend, oder der Marsch aus Prokofjews Oper "Die Liebe zu drei Orangen" voller Witz und Kraft.
Ein großer Abend.
Andreas Göbel, rbbKultur