Comic des Monats – November 2024 - Emil Ferris: Am liebsten mag ich Monster
"Am liebsten mag ich Monster" – so heißt das späte Comicdebüt von Emil Ferris, das vor fünf Jahren für Begeisterung sorgte und alle wichtigen Preise in den USA und Europa abräumte. Es ist das gezeichnete Tagebuch der kleinen Karen Reyes aus dem Chicago der 1960er Jahre, in dem sie ihren Alltag aufzeichnet und die Abgründe der verarmten Milieus dokumentiert. Es ist ein derart vielschichtiger und spannender Comic, dass große Erwartungen an den 2. abschließenden Teil gesetzt werden. Der ist nun erschienen – und der radio3 Comic des Monats.
Der zweite Teil von "Am liebsten mag ich Monster" beginnt mit einem weiteren Mord. Oder besser mit einem Traum, in dem ein Bruder von Karen auftaucht, der behauptet, dass er von dem gemeinsamen Bruder Deeze umgebracht worden sei. Damit setzt Emil Ferris schon auf den ersten Seiten das Thema: Es geht um Gewalt und wie Gewalt Menschen und ihre Beziehungen verändert.
Damit wird der Comic noch mal deutlich komplexer als der erste Teil. Der war als "Coming of Age"-Geschichte angelegt und erzählt davon, wie Karen in der Schule gemobbt wird, ihre lesbische Sexualität entdeckt und dann mitanhören muss, wie ihre Freundin und Nachbarin Anka erschossen wird.
Bedrückende Erinnerungen – und Szenen
Anka hat schon als Kind Gewalt erfahren, davon erzählt der erste Band. Ihre Mutter hatte sie als Kind an ein Bordell verkauft, weil die Not in der Weimarer Republik so groß war. Später im Nationalsozialismus kam sie als Jüdin ins KZ. Im zweiten Band zeigt Emil Ferris, wie diese Erfahrungen bis in die Gegenwart nachwirken, wie in schwülen Chicagoer Sommernächten die bedrückenden Erinnerungen ans KZ wieder hoch kommen und lebendiger sind als das aktuelle Leben.
Ferris zeichnet aber auch, wie Anka selbst bei den Verbrechen der Nazis im KZ mitmacht, um sich einen Vorteil zu verschaffen, um zu überleben. Das sind sehr bedrückende Szenen. Wir erfahren das, weil Anka davon in einem Interview erzählt – dessen Tonbänder Karen geklaut hat, um herauszufinden, wer Anka ermordet hat.
Ein anderer Mensch mit Gewalterfahrung ist Karens Bruder Deeze. Sein Vater hat den Bruder vorgezogen und Deeze damit immer wieder so gedemütigt, dass er ihn umgebracht hat. Gewalt ist für ihn seither immer wieder ein Mittel zur Alltagsbewältigung – den Lebensunterhalt verdient er zum Beispiel als Schuldeneintreiber.
Als Karen einmal Zeugin davon wird, ist sie so schockiert und verwirrt und zieht sich zurück, denn sie selbst erlebt ihren Bruder vor allem als liebevollen Beschützer, der ihr immer wieder den Weg ebnet. Es sind die Ambivalenzen im Leben der Menschen, die Emil Ferris immer wieder betont. Das ist auch beim Lesen immer wieder schockierend – und zugleich sehr fein herausgearbeitet.
Vermischung von Hoch- und Popkultur
Emil Ferris hat mit "Am liebsten mag ich Monster" eine ganz eigene Ästhetik entwickelt. Diese Graphic Novel ist das Tagebuch eines Mädchens, das mit Kugelschreibern alles hingekritzelt, was ihr widerfährt – und zwar ungeheuer ausdifferenziert. Die Bilder wirken mitunter so fein wie eine Radierung.
Manche wirken wie die Horrorhefte, die sie gern liest, andere wie die Alten Meister aus dem Chicagoer Museum. Das ist atemberaubend! Diese Horrorbilder und Gemälde sind so sehr Teil ihres Lebens, dass Karen Reyes auch ihr eigenes Leben und ihre Beobachtungen in den unterschiedlichen Stilen zeichnet.
Konsequent weiter führt der zweite Teil von "Am liebsten mag ich Monster" die unverfrorene Vermischung von Hoch- und Popkultur, die für Karen gleich wertvoll sind, wenn sie Themen behandeln, die Karen berühren.
Das können Cover von Schundliteratur genauso sein, wie die Gemälde im Chicagoer Kunstmuseum. Und zugleich zeichnet sie ein Zeitpanorama weil sie die Menschen der Nachbarschaft der Chicagoer 1960er Jahre, mit den Hippies und verschrobenen und glücklosen Gestalten.
Das Monströse im eigenen Leben
Der erste Band von "Am liebsten mag ich Monster" wurde hoch gelobt – der zweite kann daran anschließen, weil er das mit den gleichen Mitteln und genauso souverän tut, wie im ersten Band. Und dann wird das Thema der Gewalterfahrung immer wieder in die Handlung eingewoben. Dadurch nimmt dieser Comic sehr an Fahrt auf und gewinnt eine ganz neue Qualität.
Es geht immer wieder um Zugehörigkeit – die Gewalterfahrungen sind zwar unterschiedlich und wecken in den Menschen unterschiedlich monströse Gefühle. Zugleich lassen sie die Menschen auf eine Weise verletzt und versehrt zurück, dass daraus Nähe entstehen kann. Für Karen wird diese Erkenntnis zu einem Schlüssel für eine gesunde Zukunft: Das begreift sie, nachdem sie herausgefunden hat, wer Anka ermordet hat.
Die Auflösung dieses Mordfalls wird so leise erzählt, dass man es fast überlesen kann. Denn eigentlich geht es Emil Ferris um etwas ganz anderes. Es geht ihr darum, das Monströse im eigenen Leben zu akzeptieren, um damit klarzukommen und menschlich zu werden. Das ist keine neue Erkenntnis. Mit so viel Wucht und Freude ist das aber noch nie erzählt worden!
Andrea Heinze, radio3