Drama | Berlinale Wettbewerb - "Sterben"
Matthias Glasners letzter Spielfilm "Gnade" lief 2012 auch im Wettbewerb der Berlinale. In den 12 Jahren dazwischen hat er als Auftragsregisseur zu Krimiserien wie "Tatort", "Blochin" oder "Polizeiruf 110" beigetragen, aber auch Episoden der Serie "Das Boot" gedreht. Der Titel seines neuen Films, den er als seinen bisher persönlichsten bezeichnet, lautet ganz schlicht "Sterben".
Auslöser für den Film war der Tod der beiden Eltern des Regisseurs und die Geburt seines ersten Kindes - einschneidende Erlebnisse, die Matthias Glasner zunächst in losen Tagebuchnotizen reflektiert hat, um sie dann filmisch zu einem Netz von Geschichten zu bündeln. So ist "Sterben" auch eine Art Resümee an diesem Punkt seines Lebens: mit allen Gedanken und Fragen, die einen nach dem Tod der Eltern und der Geburt der Kinder, auf dem Weg zum 60. Geburtstag und mit den Unwägbarkeiten eines künstlerischen Berufes beschäftigen.
Nicht nur das Sterben, auch das pralle Leben
Mit dem Sterben als Auslöser geht es ums pralle Leben - mit allen Tiefen und Höhen, mit Krankheit, Tod, Suff, Rausch und Ekstase, mit Melancholie und Depression. Schon die Besetzung spiegelt die ganze Vielstimmigkeit, Komplexität und Widersprüchlichkeit des Lebens - unter anderem Ronald Zehrfeld, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Robert Gwisdek und Lars Eidinger drängten sich auf dem Podium der Pressekonferenz und machten spürbar, was für eine einschneidende und berührende Erfahrung der Film auch für alle Beteiligten war.
Drei Stunden, drei Teilen, drei Perspektiven
Vom seriellen Erzählen inspiriert wird die Familiengeschichte über drei Stunden, in drei Teilen und drei Perspektiven ausgebreitet. Den Anfang machen die alten Eltern: Der Vater irrt halb nackt und verwirrt draußen herum, die Mutter liegt hilflos, desolat und beschmutzt im Nachthemd auf dem Boden. Diese verhärtete, abweisende Frau ist eine typische Corinna Harfouch-Rolle: mit einem scheinbar undurchdringbaren Panzer, der im Lauf der Ereignisse langsam Risse bekommt. Zunächst wirkt das so eng und stickig, dass man sich ein bisschen vor den weiteren zweieinhalb Stunden des Films, vor diesem im Titel angekündigten langen Sterbeprozess fürchtet.
Atemraubendes Schauspiel-Duett am Küchentisch
Doch dann gibt es eine Szene am Küchentisch, die wie eine emotionale Bombe einschlägt: Ein atemraubendes Schauspiel-Duett zwischen Corinna Harfouch und Lars Eidinger (der hier das Alter Ego des Regisseurs verkörpert). Diese Begegnung am Küchentisch ist ein minutiös getimtes und fein kalibriertes Meisterstück: Denn ausgerechnet am Tag der Beerdigung seines Vaters, konfrontiert die Mutter ihren Sohn ungeschönt direkt mit unappetitlichen medizinischen Details mit ihrer eigenen Krebsdiagnose und hängt gleich anschließend noch eine ernüchternde Analyse ihrer lieblosen Indifferenz als Mutter dran.
Zwischen der brutalen Härte der gesprochenen Worte und der minimalistisch kontrollierten Reaktion tun sich augenblicklich die fürchterlichen Abgründe in dieser Familie auf. Danach wechselt der Film noch zweimal die Perspektive, geht von der Mutter zu ihrem Sohn, zu seiner Schwester, deren Zerrüttung Lilith Stangenberg auf verstörend intensive Weise extrem physisch spielt.
Fließender Übergang zwischen Realität und Gedankenspiel
Viele Aspekte der erzählten Familiengeschichte gehen auf reale Erlebnisse zurück, die jedoch immer wieder auch mit fiktiven Teilen verwoben sind. So hat Matthias Glasner in der Pressekonferenz die von Lilith Stangenberg gespielte Schwester als alternative Version seiner selbst beschrieben. So ist "Sterben" ein komplexes Gewebe aus Fragen und Gedanken, mit denen sich Glasner beschäftigt: Unsere Verstrickungen mit der Familie, in Beziehungen, die Ambitionen und das Scheitern im Beruf, warum sind wir so wie wir sind, welche Entscheidungen treffen wir, warum können wir nicht raus aus unserer Haut.
Dabei ist der Film so unordentlich und chaotisch wie das Leben und die Charaktere nerven immer mal wieder auch entschieden in ihrer Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit und Überspanntheit: Müssen Lilith Stangenberg als Zahnarzthelferin und Ronald Zehrfeld als Zahnarzt die Untiefen ihrer Beziehung gleich mehrfach über den Kopf eines Patienten hinweg austragen?
Doch so intim und persönlich der Film ist, so offen ist er auch in seinen Identifikationsangeboten für jeden Zuschauer, der lebt, liebt, arbeitet, kämpft.
Anke Sterneborg, rbbKultur