Berlinale Wettbewerb | Eröffnungsfilm - "Small Things like these"
Gestern Abend wurde die 74. Berlinale mit dem Film "Small Things like these" von Tim Mielants eröffnet. Es ist die Verfilmung eines Romans von Claire Keegan, die auch schon die Vorlage für den wunderbaren Film "A Quiet Girl" geschrieben hat. Es geht um das kollektive Trauma in Verbindung mit den berüchtigten Magdalenenheimen, in denen unehelich schwangere Mädchen unter zum Teil furchtbaren Bedingungen zur "Umerziehung" als Zwangsarbeiterinnen ausgebeutet wurden.
Mit ihren unehelichen Kindern, die den Müttern kurz nach der Geburt entrissen wurden, haben die Nonnen einen schwunghaften Menschenhandel getrieben. Schon mehrfach wurden diese Missstände im Kino thematisiert, unter anderem 2002 in "Die barmherzigen Schwestern" von Peter Mullan und 2013 in "Philomena" von Stephen Frears mit Dame Judi Dench als Mutter, die sich mit Unterstützung eines Journalisten in hohem Alter auf die Suche nach ihrem damals verschleppten Sohn macht.
Bilder und Stimmungen statt Dialoge
Der Belgier Tim Mielants arbeitet seit langer Zeit in England, war da unter anderem an hochkarätigen Fernsehserien wie "Peaky Blinders", "The Responder" oder "Legion" beteiligt. Dem brisanten Thema nähert er sich betont unaufgeregt und zurückhaltend und vor allem sehr filmisch über Bilder und Stimmungen. Da folgt er sehr stark der Romanvorlage, denn auch Claire Keegan erzählt eher mit Beschreibungen als mit Dialogen und versetzt den Leser sehr unmittelbar in diese Zeit hinein: die 80er Jahre in einer fast mittelalterlich anmutenden ärmlichen, streng katholischen Gemeinde in Irland.
Alles wirkt düster und eng, man sieht nie klar, in den Häusern gibt es nur schummriges Licht, draußen regnet es oft, die Luft wirkt immer dunstig. Diese Bilder wiederum sind ganz eng mit der Wahrnehmung des von Cillian Murphy gespielten Kohlehändlers Tom Furlong verbunden, einem sehr ruhigen, nach innen gekehrten Mann, Vater von fünf Mädchen. Der Film atmet mit ihm, nimmt seine Wahrnehmung, seinen Rhythmus, seine Beobachtungen seismografisch auf. Während er seine Kohlen liefert, beobachtet Tom eines Tages, wie sich ein junges Mädchen mit Händen und Füßen verzweifelt dagegen wehrt, im Kloster abgegeben zu werden. Bei der nächsten Begegnung fleht sie ihn an, sie mitzunehmen, sie zu retten, doch eine der Nonnen geht sehr harsch dazwischen.
Abtauchen in die Erinnerung
Danach spürt man, wie sehr dieses Erlebnis Tom beschäftigt, wie es bei ihm einen Erinnerungsprozess an die eigene traumatische Kindheit auslöst. Für dieses Ringen gegen das Vergessen, dieses Abtauchen in die Erinnerungen findet Mielants immer wieder visuelle Entsprechungen, die Bilder sind oft verschwommen, gehen durch halbblinde Fenster und Spiegel, verrauchte Kneipen, schummrige Beleuchtung. Man spürt geradezu physisch, wie Tom diese schmerzhaften, schemenhaften Erinnerungen aus dem Vergessen herauslösen muss.
Dabei ist Tom kein klassischer, tatkräftiger Held, sondern ein Mann, der beobachtet und abwägt, und man kann dabei zuschauen, wie in ihm ganz langsam ein Entschluss reift. Äußerlich passiert nicht viel, doch so wie der Film das erzählt und Cillian Murphy das spielt, ist enorm spannend - gerade, weil alles so minimalistisch und indirekt, aber zugleich sehr genau und wahrhaftig erzählt ist. Damit ist Cillian Murphy schon jetzt ein ganz heißer Kandidat für den Bären für die beste Darstellung in einer Hauptrolle.
Starke Eröffnung
Auch wenn "Small Things like these" kein Feelgood-Movie ist: für die Feierlaune eines Festivals ist es ein richtig starker Film, was man schließlich nicht so oft sagen konnte über den Eröffnungsfilm der Berlinale. Und er passt gut zu den schwierigen Zeiten, in denen dieser Film durchaus inspirierend sein kann. Denn er erzählt nicht von einem überlebensgroßen Helden, sondern von einem ganz normalen Mann, der seinen Schmerz lange unterdrückt, aber mit der Zeit zu dem Schluss kommt, dass er trotz des großen Drucks aus dem Umfeld nicht mehr schweigend zuschauen kann, dass er aus Menschlichkeit handeln muss.
Das letzte irische Magdalenenheim schloss am 25. September 1996.
Anke Sterneborg, rbbKultur