Dokumentation - "Die Unsichtbaren"
In den 90er Jahren sorgte ein Fall für Aufsehen, der als "Die Säurefass-Morde" Geschichte schreiben sollte. Unter dem Titel "Gefesselt" konnte man sich letztes Jahr die Gewaltfantasien des Serienmörders bei dem Streaming-Anbieter Amazon Prime als sogenannte True Crime-Serie ansehen. Wer das nur schwer ertragen hat, sich aber für den Fall interessiert, ist bei der Dokumentation "Die Unsichtbaren" gut aufgehoben.
Hie passiert alles im Kopf. Die Gewalt wird nicht sichtbar. Der Täter tritt nicht in Erscheinung – er interessiert hier nicht. In der Dokumentation "Die Unsichtbaren" geht es um die Opfer und ihre Angehörigen. Und um die ermittelnde Kommissarin, Marianne Atzeroth-Freier:
"Eines Tages bekam ich freitagsabends den Anruf: da ist die Frau eines Kürschners entführt in Poppenbüttel, und morgen früh fährst du da hin. Ich hab‘ gedacht: So ein Mist, ich hatte ein freies Wochenende!"
Einem Frauenmörder auf der Spur
Bald taucht Christa S. zwar wieder auf – doch niemand glaubt ihr. Im Gegenteil: Man denkt, sie mache gemeinsame Sache mit dem Entführer. Allein in Marianne Atzeroth-Freier findet Christa S. jemanden, die ihr zuhört, die die Ermittlungen aufnimmt, den Entführer findet und hinter Gitter bringt.
Da ahnt noch niemand, auch Kommissarin Atzeroth-Freier nicht, dass man es hier mit einem Mörder zu tun hat, der schon andere Frauen gefangen hielt, misshandelte, ermordete und dann in Salzsäure legte.
Eine Kommissarin, die nicht locker lässt
Dass der glimpflich verlaufene Entführungsfall von Christa S. nur die Spitze eines Eisbergs zu sein scheint, begreift auch die Kommissarin erst, als eine ältere Dame sie um Hilfe bittet: Ihre Tochter Annegret sei vor zwei Jahren verschwunden, die Polizei aber habe die Ermittlungen nach kurzer Zeit eingestellt. Natürlich hilft die Kommissarin Marianne Atzeroth-Freier, genannt Janne und die Stiefmutter des Regisseurs Matthias Freier, die diesen Fall zu ihrem Fall machte, die so lange ermittelte, bis man die Säurefässer mit den sterblichen Überresten der Opfer im Garten des Täters fand.
Im Jahr 1978 stellt die Hamburger Polizei 75 männliche Polizisten ein. Und fünf Polizistinnen. Eine von ihnen war Marianne Atzeroth-Freier. Eine gestandene Frau, Mitte 30, die ihren Beruf ernst nimmt. Man kann sich vorstellen, dass sie weder bei der Sitte, noch bei der Mordkommission, wohin sie Anfang der 90er Jahre wechselt, erwünscht war: Jemand, der nicht lockerlässt, der es um die Sache geht und nicht um Eitelkeiten. Vor allem aber war sie eine Frau. Und Frauen kannten die männlichen Kollegen und Vorgesetzten als Praktikantinnen und Sekretärinnen – nicht aber als Gleichgestellte. Und das ließen sie Marianne spüren. Auch darüber spricht sie in diesem Film, für den ihr Stiefsohn Matthias die Archive durchforstet hat.
Marianne Atzeroth-Freier hätte Leben retten können - hätte man ihr zugehört
Original-Tondokumente aus den 90er Jahren, Telefonmitschnitte, Interviews mit ehemaligen Kollegen und Kolleginnen, Szenen, die den Alltag von Marianne Atzeroth-Freier als Kommissarin nachstellen – all das zeichnet behutsam und ohne je reißerisch zu sein, das Bild einer starken Frau, deren Engagement hätte Leben retten können. Hätte man ihr zugehört.
Die "Unsichtbaren" – das sind die Vermissten, Angehörigen und Opfer, aber auch Marianne Atzeroth-Freier selbst. Auch sie hatte keine Lobby. Weil sie eine Frau war. Das zu sehen, ist unglaublich bitter.
Für Regisseur Matthias Freier war Marianne Atzeroth-Freier vor allem Janne. Sie heiratete seinen Vater, als er selbst 8 Jahre alt war. Sprach nie viel über ihre Arbeit. Nur einmal, als er nach einem Auslandsaufenthalt zurück nach Hamburg kam, vermittelte sie ihm ein Sofa für seine neue Wohnung. Noch unausgepackt. Da erzählte sie erstmals von den verschwundenen Frauen, den brutalen Morden: Einer von ihnen hatte das Sofa gehört. Matthias Freier wollte mehr wissen. Aus diesen Gesprächen entstand die Idee zu dem Film. Das Sofa wollte Matthias Freier nicht mehr.
Christine Deggau, rbbKultur