Buchpräsentation "Meine wilde Nation" | Marina Weisband, Alex Lissitsa und Natascha Freundel © Rolf Walter/xpress.berlin
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Die Debatte mit Natascha Freundel, Alex Lissitsa und Marina Weisband - Ukraine – zu wild für Europa?

"Europa braucht die Ukraine" (Marina Weisband)
 
Aufzeichnung vom 24. Juni 2024 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bei der Buchvorstellung von Alex Lissitsa: "Meine wilde Nation. Die Ukraine auf dem Weg in die Freiheit"

In Kooperation mit dem C.H. Beck Verlag

Für den Beitritt zur EU müssten die Ukrainer ihre Wildheit "zähmen", schreibt der Agrarunternehmer Alex Lissitsa in seinem Buch: "Meine wilde Nation". Welche Wildheit? Für die Psychologin und Bildungsexpertin Marina Weisband gehört die wilde Mischung der Ethnien dazu, ein besonderer Widerstandsgeist, ein ausgeprägtes Talent für schnelle, kreative Lösungen.

Langfristige Projekte wie die Transformation des Agrarsektors hin zu EU-Standards seien damit schwer zu bewältigen – zumal im Krieg. Wie kommt der Kampf gegen die Korruption in der Ukraine voran? Wie bewältigen die Menschen ihr Leben, ihre Arbeit und Verteidigung nach zweieinhalb Jahren fortwährender Angriffe durch Russland? Die Herausforderungen sind riesig, doch sie mindern nicht das ukrainische Feuer für die Freiheit, so Lissitsa und Weisband: "Europa braucht dieses Feuer."

Wir haben keine Wahl, wir müssen halt arbeiten. Um die Steuern zu bezahlen, um die Menschen zu ernähren. Und wenn Sie sich vorstellen, wenn man dreimal, viermal die Nacht nach unten läuft, in den Keller, mit drei kleinen Kindern, da hat man natürlich morgens nicht gerade die Produktivität. Das ist auch klar. Aber ich habe kein einziges Mal von irgendjemandem gehört: Wir wollen jetzt aufgeben. Wir wollen jetzt irgendwelche Friedensverträge machen oder so etwas. Kein einziges Mal. Wir werden weitermachen. Wir werden weiter arbeiten. Wir werden weiter kämpfen. Und das ist ja wahrscheinlich diese Wildheit, die in uns steckt: weiterzukämpfen, weiterzuarbeiten, egal, was passiert.

Alex Lissitsa

Es gibt Korruption in der Ukraine, das Sozialwesen ist nicht so weit entwickelt wie in anderen europäischen Ländern: Diese Dinge werden häufig benutzt als Argument, die Ukraine nicht zu unterstützen oder sie von Europa fernzuhalten. Erstens finde ich das Argument, in diesem Land gibt es korrupte Menschen, also darf es bombardiert werden, absolut irrsinnig. Und zweitens winkt Europa der Ukraine und lädt sie ein. Das gibt der Ukraine die Energie zu reformieren, weil man plötzlich ein Ziel vor Augen hat und weil man auch europäische Kontrollinstanzen hat. Aber mit einer Hand winkt Europa, und mit der anderen Hand hält es die Ukraine fern. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, zu sagen, es ist noch nicht alles perfekt, und deshalb überlassen wir die Ukraine Russland, sondern es ist wichtig, dass Europa und ich spreche jetzt von einer westlichen Position, dass wir uns einig werden, was eigentlich unser Ziel ist. Ich glaube, Europa braucht die Ukraine.

Marina Weisband
Buchpräsentation "Meine wilde Nation" | Marina Weisband und Alex Lissitsa © Rolf Walter/xpress.berlin
Marina Weisband und Alex LissitsaBild: Rolf Walter/xpress.berlin

Gäste

Marina Weisband, geboren 1987 in Kyjiw, Ukraine, leitet seit 2014 das von ihr gegründete digitale Schülerbeteiligungsprojekt "aula". Sie kam mit ihrer Familie 1994 als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland und wuchs in Wuppertal auf. Weisband studierte Psychologie in Münster und war Geschäftsführerin der Piratenpartei. Heute ist sie Mitglied von Bündnis 80/Die Grünen, bei denen sie sich insbesondere für Digitalisierung und Bildung engagiert. Darüber hinaus hat sie eine Radiokolumne beim Deutschlandfunk und ist Co-Vorsitzende bei D64 e.V., dem Zentrum für digitalen Fortschritt. 2013 erschien ihr Buch "Wir nennen es Politik" (Tropen Verlag) über die Möglichkeiten neuer demokratischer Formen mit Hilfe des Internets. Ihr aktuelles Buch ist "Die neue Schule der Demokratie. Wilder denken, wirksam handeln" (S. Fischer 2024).

Alex Lissitsa, geboren 1974 im Dorf Telne, Oblast Tschernihiw, Ukraine, ist seit 2013 Geschäftsführer der IMC Agrarholding, eines der Top10-Agrarunternehmen der Ukraine. Er hat Wirtschaftsökonomie in Kyjiw studiert und an der Humboldt-Universität zu Berlin in Agrarökonomie promoviert. Er hat am Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien in Halle geforscht und war Post-Doc Fellow an der University of Queensland (Brisbane, Australia). Lissitsa ist Präsident des von ihm 2007 gegründeten "Ukrainian Agribusiness Club" (UCAB) und war Berater des Landwirtschaftsministers Jurij Melnyk. Er ist Vorstandsvorsitzender des Ukrainischen Zentrums für Europäische Politik, Vorsitzender des Rats für Agrarbildung im Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Ukraine sowie Vorstandsmitglied der Ukrainischen Akademie für Corporate Governance. Sein Buch „Meine wilde Nation. Die Ukraine auf dem Weg in die Freiheit“ ist bei C.H. Beck erschienen.

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Debatte mit Natascha Freundel & Gästen - Der Zweite Gedanke

Hier wird nicht nur debattiert, hier wird auch zusammen nachgedacht. Über alles, was unser Miteinander betrifft. Bildung, Digitalisierung, Demokratie, Einsamkeit, Freiheit, Klima, Kultur, Städtebau, Visionen - die Themen liegen in der Luft, nicht erst, aber besonders deutlich seit der Corona-Pandemie. Jede Folge widmet sich einer Frage unserer Zeit. radio3-Redakteurin Natascha Freundel spricht jeweils mit zwei Gästen, die wissen, wovon sie reden. Philosophisch, aber nie abgehoben. Persönlich, aber nicht privat. Kritisch und konstruktiv. Hier soll es nicht knallen, sondern knistern. Immer auf der Suche nach dem zweiten, neuen Gedanken.