Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats September 2024
Im Monat September geht es um Müßiggang und die Psychologie als prägende Wissenschaft des 20. Jahrhunderts. Weitere Sachbücher auf unserer Monatsliste – ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren - beschäftigen sich mit Künstlicher Intelligenz und Kreativität sowie dem weiblichen Körper.
Ich bin immer wieder erstaunt, welchen Reichtum an Beobachtungen, Erkenntnissen, Überraschungen manches Buch preisgibt, wenn man es erst einmal öffnet und sich in die Lektüre vertieft. Michaela Krützens Studie "Zeitverschwendung“ mit dem ergänzenden Untertitel "Gammeln, warten, Driften in Film und Literatur" ist so ein Fall.
Denn tatsächlich gelingt es der Autorin mit ihren ausführlichen Fallbeispielen – etwa Hans Castorp in der Kurklinik bei Thomas Mann, Marie Antoinette am französischen Hof, deren Zeitverschwendung zu ihrem Tode führte, Federico Fellinis "Müßiggängern“ - zu zeigen: "was als Zeitverschwendung gilt, charakterisiert jeweils das Verhältnis einer gesellschaftlichen Gruppierung zur Arbeit und zum Müßiggang, zum Geldverdienen und zur Muße. Was eine Welt als Zeitverschwendung brandmarkt", so ihre gut begründete These, "sagt aus, wie diese Welt ist“ (S. 15).
Kreativer Müßiggang contra Zeitverschwendung
Noch im Duden kann man lesen, dass "Zeitverschwendung" als "schlechte Ausnutzung von verfügbarer Zeit“ angesehen wird – eine Bestimmung, die nach der Lektüre von Michaela Krützens Buch widerlegt sein dürfte. Wir sehen nämlich, wie wertvoll im rastlosen Dasein die Rast ist, und zwar nicht nur bei den notorischen Müßiggängern, sondern bei jedem. Allerdings ist auch Vorsicht geboten: es gibt sowohl kreativen Müßiggang als auch solchen, der uns Lebenszeit stiehlt. Vielleicht lernen wir auch nebenbei, die Generation X besser zu verstehen. Zeitverschwendung ist die Lektüre dieses Buches nicht.
Psychologie als prägende Wissenschaft des 20. Jahrhunderts
Das Stichwort "Zeitverschwendung“ taucht gänzlich unerwartet auch in einem anderen Buch unserer Liste auf, nämlich dort, wo der Wissenschaftsjournalist Steve Ayan auf seiner Reise durch "das Jahrhundert der Psychologie“ auf den Psychologen Gustav Großmann (1893 – 1973) stößt. Diesem Methodiker der Lebenskunst galt – übrigens nicht als Einzigem - die Suche nach dem Erfolg als Zeitverschwendung.
Allerdings ist Großmann bloß eine Randfigur auf dem zuerst schmalen und dann immer breiter werdenden Weg der Psychologie, bis sie zur prägenden Wissenschaft des 20. Jahrhunderts wurde. Mit Freud, Adler, Jung begann dieser Weg, und Ayan schreitet ihn bis in unsere Gegenwart fort. Er beschreibt informativ und anschaulich die Entwicklung in die drei Zweige: Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Gesprächstherapie und hält dort, wo Psychologie und Psychoanalyse nichts anderes als Mythos oder Weltanschauung sind, mit Kritik nicht zurück.
Sigmund Freud: vom Seelenarzt zum Kulturtheoretiker
Wie Sigmund Freud, der strenge Vater der Psychoanalytik, im Laufe seines Lebens – und in immerwährender, unnachgiebiger Abgrenzung zu seinen abtrünnigen Schülern und Anbetern - vom Seelenarzt zum Kulturtheoretiker wurde (vgl. S. 213 ff.), können wir mit atemloser Spannung verfolgen. Ja, dass Freuds psychologische Erkenntnis prophetisch anmutet, lässt staunen: "Die Menschen haben es in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht“, zitiert Ayan Freud, "dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten“ (S. 216).
Die Psychoanalyse begann ihren Weg im Wien der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert – in den Vereinigten Staaten ist sie, das lässt sich jetzt sehr anschaulich nachvollziehen, zu bemerkenswerter Blüte – man denke nur ans Coaching – geworden, und noch die New Age-Bewegung hat davon gezehrt.
Künstliche Intelligenz und Kreativität
Bekanntlich lässt uns das rasante Entwicklungspotential der Künstlichen Intelligenz – KI – schon lange nicht mehr kalt; auf unserer Liste sind ja auch schon allerlei Bücher erschienen, die sich kritisch, wohlwollend oder gar abschreckend mit ihr beschäftigen. Philipp Schönthaler hat nun in der schönen Reihe "Fröhliche Wissenschaft“ des Berliner Verlages Matthes & Seitz den Schritt der künstlichen Intelligenz in die Kreativität verfolgt.
Ungewissheit bleibt
"Wie rationale Maschinen romantisch wurden“, genauer gesagt, er geht der Frage nach "wer im Recht darüber liegt, ob die 'echte Literatur‘ …aus einem spontanen, nicht erlernbaren Akt hervorgeht, der genuin menschlich ist. Oder ob sie das Produkt von regelgeleiteten und algorithmischen Gesetzmäßigkeiten ist, die deshalb auch von einer Maschine berechnet und erzeugt werden“ kann (S. 40). Seine Antwort bleibt letztlich offen, ein klares Ja oder Nein findet sich nicht. Die Ungewissheit bleibt.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992