Andreas Reckwitz: Verlust; © Suhrkamp Verlag
Bild: Suhrkamp Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats November 2024

Hass, Zorn, Hoffnungslosigkeit: Kann man angesichts der Wahrnehmung einer Verrohung der Sitten und der Schrecken aktueller Kriegsgreuel von einer Krise der Emotionen sprechen? Zwei Bücher auf unserer November-Liste greifen diese Diagnosen auf und deuten sie als "Grundproblem der Moderne" bzw. als "Explosive Moderne" – ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren.

Als Verlierer auf dem Weg in die Zukunft fühlen sich gegenwärtig immer mehr Menschen. Sie reagieren darauf je nach individueller oder gesellschaftlicher Bedingung mit Hass, Neid, Zorn, Aggressivität, Hoffnungslosigkeit. Kann oder muss man sogar angesichts der Wahrnehmung einer Verrohung der Sitten, zunehmender Aggressionen in der Gesellschaft, den shitstorms, der Schrecken aktueller Kriegsgreuel von einer Krise der Emotionen sprechen? Vielleicht davon, dass Emotionen – und damit wir – besonders herausgefordert werden? Jedenfalls reißen die Warnzeichen nicht ab und öffnen alte Wunden.

Verlust als soziales Problem

Zwei Bücher auf unserer November-Liste greifen diese Diagnosen auf und deuten sie als "Grundproblem der Moderne" bzw. als "Explosive Moderne". Sie machen den Versuch, soziologische und psychologische Ebenen bzw. Sichtweisen miteinander zu verknüpfen: Das Kopf- an-Kopf-Rennen hat Andreas Reckwitz mit seinem Buch "Verlust" gewonnen, dicht gefolgt von Eva Illouz mit ihrem Buch über die "Explosive Moderne".

Reckwitz sucht die Verluste insbesondere in den Narrativen vom Fortschritt, den er als "euphorisches Intermezzo" (S. 297) kennzeichnet, in Sinnverlusten von Lebens- und Ordnungszusammenhängen zu erkennen. Er nimmt den Verlust als soziales Problem in den Blick und lässt uns die Mechanismen nachvollziehen, durch die kognitive, emotionale, rationale und irrationale Bedingungen gesellschaftlich und individuell in Einklang gebracht werden und kreiert damit so etwas wie eine kritische Theorie der Affektologie.

Viel Vertrauen muss man freilich dem Verfasser, der zur Stütze seiner eigenen Thesen weit ausholt in eine kaum überschaubare Fachliteratur, entgegenbringen, doch dann wird auch das "Grundproblem der Moderne" erkennbar.

Eva Illouz: Explosive Moderne; © Suhrkamp Verlag

Literatur und Gesellschaft

Illouz (allerdings mit einem starken Vorbehalt gegenüber der Psychologie, S. 20) verortet, wie man gerne sagt, die Gefühlswelten besonders in der Literatur, vornehmlich in Romanen, für eine Soziologin immerhin ein bemerkenswerter Fundort. Sie zwingt freilich, wie ich finde, emotionale und rationale Kategorien gelegentlich zu eng aneinander, weil sie erst auf diese Weise Literatur und Gesellschaft als gleichwertige Zeugen für ihre These von der "explosiven Moderne" einsetzen kann.

Die kann sie allerdings mit einem Blick von der Antike bis in die Gegenwart z. B. den Weg einer subjektiv empfundenen Ungerechtigkeit über den individuellen Zorn bis in einen kollektiven Aufruhr nachzeichnen, etwa wenn sie den individuellen Zorn des Achilleus aus der "Ilias" bis in den kollektiven Zorn ganzer gesellschaftlicher Gruppen nachzeichnet:

"Breite Protestbewegungen", schreibt sie, "gehen oft von einem persönlichen Leid und der anschließenden Identifikation anderer mit ihm aus" (S. 159). Se veranschaulicht das an dem Beispiel des Michael Kohlhaas und der Tötung Michael Browns 2014 in Ferguson, Missisippi und dem anschließenden Aufruhr.

Diese Methode nutzt Eva Illouz auch für den emotionalen Verlust der Heimat und den Aufbau nostalgischer Gefühle – womit sie die "schmerzhafte Geburt der Moderne" benennt. Viele kennen diese Gefühle und müssen mit ihnen leben.

Annette Kehnel: Die sieben Todsünden; © Rowohlt Verlag
Bild: Rowohlt Verlag

"Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise"

Und dann haben wir da noch Die sieben Todsünden: Fresssucht, Habgier, Luxus, Müßiggang, Neid, Zorn und Überheblichkeit. In ihnen erkennen wir einen Teil jener Emotionen wieder, die uns in den Büchern von Reckwitz und Illouz begegnet sind. Nur erscheinen sie in dem Buch der Mediävistin Annette Kehnel in ihrer von der Kirche und den sich wandelnden Gesellschaften instrumentalisierten Gestalten, als historische Rahmengrößen, die das Leben der Menschen einhegen, bändigen, formen und sichern.

"Menschheitswissen für das Zeitalter der Krise" lautet der Untertitel – ein bemerkenswerter Blick in Gefühls- und Verhaltenswelten, die mancherorts verloren gegangen sind. Ursprünglich eine Art Wiedergutmachung des Menschen der Sünden, die der Mensch an der Natur begangen hat – die Erinnerung daran passt wohl in unsere Zeit.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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Die Sachbücher des Monats

Themen beleuchten, Probleme analysieren, Lösungen diskutieren: Sachbücher bieten in einer immer komplexeren Welt Orientierung – aber wer kennt schon die Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt? 24 namhafte Jurorinnen und Juroren aus Wissenschaft und Publizistik bewerten Monat für Monat neue Sachbücher nach Relevanz, Originalität und Lesbarkeit. Ihre Funde sammeln wir als "Sachbücher des Monats" und ergänzen sie durch die "Besondere Empfehlung" eines ausgewählten Lesers – eine Lesehilfe für ein interessiertes Publikum.