Richard Overy: Warum Krieg?; © Verlag Rowohlt Berlin
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Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Dezember 2024

"Warum Krieg?" – Richard Overy führt unzählige Varianten von Krieg und Gewalt an, verweist auf unzählige Versuche der Psychologie wie der Ethnologie und Soziologie, Kriege zu erklären. Über Krieg zu sprechen, heißt umgekehrt auch, über Freiheit zu sprechen. Der weltweit bekannte Historiker Timothy Snyder tut eben dies und schreibt "Über Freiheit". Zwei der Bücher auf der radio3-Sachbuchliste – ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren.

Einen "urtümlichen Pazifismus", das wissen wir inzwischen, gibt es nicht. Stattdessen Kriege von Anfang an. "Über den gesamten Zeitraum der menschlichen Evolution hinweg", schreibt der Historiker Richard Overy, "gab es kollektive, tödliche Gewalt zwischen unterschiedlichen Gruppen, und für dieses Phänomen muss eine Erklärung gefunden werden" (S. 15).

Overy liefert diese Erklärung, freilich nicht nur eine. Es gibt die Aggressivität der Männer, die schon in Kindeszeiten beginnt ebenso wie die Lust an der Unterwerfung angenommener Feinde, den Kampf ums Überleben wie die Abgrenzung der Ingroup von der Outgroup, und vor allem "liegt die größte Kriegsgefahr in der Fehldeutung der Intention anderer Staaten" (S. 297).

Overy führt unzählige Varianten von Krieg und Gewalt an, verweist auf unzählige Versuche der Psychologie wie der Ethnologie und Soziologie, Kriege zu erklären und die Gewichte zwischen einem allgemeinen Potential zur Gewaltbereitschaft und einem solchen zur Friedensfähigkeit zu beschreiben. Zuletzt bleibt nur die ernüchternde Einsicht: "Die Aussicht auf eine Welt ohne Krieg erscheint verschwindend gering … Krieg hat in der Menschheit eine lange Geschichte – und leider auch eine Zukunft" (S. 315).

Timothy Snyder: Über Freiheit; © C. H. Beck Verlag
Bild: C. H. Beck Verlag

Dimensionen positiver und negativer Freiheit

Über Krieg zu sprechen, heißt umgekehrt auch, über Freiheit zu sprechen, ob man sie hat oder ob sie fehlt. Der weltweit bekannte Historiker Timothy Snyder tut eben dies und schreibt "Über Freiheit". Sein Ausgangspunkt ist der Krieg in der Ukraine und die Beobachtung, dass die Menschen dort unendlich viele unterschiedliche Beschreibungen von Freiheit haben. Und tatsächlich kreuzen sich die Wege Snyders und seiner Suche nach den Freiheiten in der Menschheitsgeschichte mit denen Overys und seiner Suche nach der Erklärung für den Krieg.

Snyder, der Verfasser des berühmt gewordenen Buches "Bloodlands", geht in "Freiheit" sehr persönlich vor und dekliniert auf diese Weise die unterschiedlichen Dimensionen positiver und negativer Freiheit durch (am Schluss seines Buches gibt er sogar eine Tabelle als Zuordnung zu den Ordnungsbegriffen der Freiheit an, vgl. S. 335).

Dabei entfaltet sich Freiheit als ein umfassendes Geflecht politischer, sozialer und individueller Verhaltensweisen und Setzungen, die sich in den Begegnungen der Menschen untereinander manifestieren und das Buch wird zu einem "Weckruf, die Zukunft endlich in die Hand zu nehmen und uns gegen die gewaltige Welle der Unfreiheit zu wehren, die über uns hereingebrochen ist" (Umschlagstext).

Peter Sloterdijk: Der Kontinent ohne Eigenschaften; © Suhrkamp Verlag
Bild: Suhrkamp Verlag

Ein Kontinent der Widersprüche

Freiheit ist natürlich auch für Europa eine existentielle Frage – und angesichts ihrer Bedrohung durch die russische Aggression im Osten Europas ist die Antwort darauf besonders dringlich. Aber wird Europa mit einer Stimme sprechen? Eines ist wohl sicher: Einig wird sich Europa nicht sein, jedenfalls nicht in einem Europa, der als "Kontinent ohne Eigenschaften" auftritt.

Peter Sloterdijk, von dem wir immer wieder Neues aus seinem Denkkosmos erfahren, liest uns – um im Bilde der Lektionen und der Sprache zu bleiben – anhand der Befindlichkeiten und Eigenwilligkeiten die Leviten. Er zeigt einen Kontinent der Widersprüche, der nur in den schöpferischen Qualitäten zur wahren Identität findet. Dahin aber führt er uns durch die Geschichte mit ihren versteckten und verdrängten Wegen, die manchmal hart an Abgründen entlang schliddern.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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