Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats August 2024
Der Monat August steht ganz im Zeichen der Philosophie: zwei Bücher lassen den Blick nach Frankreich schweifen. Zwei weitere Bände beinhalten Aufsätze der ewig aktuellen Hannah Arendt – ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren.
Eigentlich dachte man, die mühsame Auseinandersetzung mit der französischen Philosophie der 60er Jahre sei vorüber und man könne sich gemütlich im Sessel des "normalen" Denkens zurücklehnen. Aber, weit gefehlt! Die in Frankreich und z.Z. auch in Deutschland lehrenden Philosophen Orazio Irrera und Daniele Lorenzini haben aus dem Nachlass Michel Foucaults ein Manuskript ausgegraben, mit dem man sich nun doch noch beschäftigen muss.
Der Blick auf's Ganze
Auf Platz 2 unserer Liste steht "Der Diskurs der Philosophie", leider keine leichte Sommerlektüre und nur verstehbar, wenn man die ausführlichen Kommentare zu den einzelnen Kapiteln sorgfältig mitstudiert. Wer das tut, dem erschließt sich dann freilich eine Philosophie des Gegenwärtigen, die uns dazu zwingt, unser Zeitalter in den – philosophischen – Blick zu nehmen, ein intellektuelles Programm, das es in sich hat.
"Es gibt keine philosophische Wahrheit", schreibt Foucault, "welche die Welt, Gott, die Natur, das Sein oder die Philosophie selbst betrifft, wenn sie nicht gleichzeitig und in der Bewegung, die sie entfaltet, sagt, unter welchen Bedingungen und wie sie sich eröffnet hat, um dem Philosophen, der sie formuliert, zugänglich zu werden" (S. 34).
Daraus ergibt sich – und in Zeiten aufflammenden KI-Wahns – umso wichtiger, dass das philosophische Denken an das Subjekt geknüpft ist und niemals von Maschinen, künstlichen Intelligenzen oder irgendwelchen anderen Instanzen ersetzt werden kann. Philosophie ist der Blick (Diskurs, wie Foucault sagt) auf's Ganze, nicht auf's spezifisch Einzelne – und übt damit eine kritische Funktion aus: "Es ist der Philosoph, der den Alltag (des der Wissenschaft wie den des Lebens) allein durch den Einbruch des Lichts verändert" (S. 79/80) – sprich: durch die Erleuchtung, also die Aufklärung.
Zum besseren Verständnis
Wie es der Zufall (?) will, steht auf unserer Liste ein Buch, das die "Schule des Südens" überschrieben ist und "die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie" (Untertitel) behandelt. Kapitel 4 ist Michel Foucault gewidmet, der sich von 1966 bis 1968 in dem nördlich von Tunis gelegenen Küstendörfchen Sidi Bou Saïd aufhielt. Offenbar ging es all diesen französischen Philosophen, von Roland Barthes in Casablanca oder Jacques Derrida in Algier und eben auch Foucault darum, "sich selbst fremd (zu) werden, seiner Sprache und seiner Nation" (Motto).
Dabei wird deutlich: "Die Omnipräsenz der individuellen und kollektiven Schuldfrage [gegenüber den kolonisierten Bevölkerungen, Anm. d. Verf.] gehört zu den mit Abstand bemerkenswertesten Erkenntnissen, die der Gang durch die einzelnen intellektuellen Biographien zu Tage gefördert" (S. 273) und sich letzten Endes auch auf die französische Philosophie unter dem Stichwort der Dekonstruktion ausgewirkt hat. Manches versteht man nun besser.
Überraschend und erschreckend aktuell
Wie aktuell die Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975) noch immer ist, zeigen die beiden Bücher, die es auf unsere Liste geschafft haben: "Vorträge und Aufsätze 1930 – 1938", das uns einen Eindruck der frühen Lebens- und Denkwege Arendts bietet und damit eine Lücke in der Forschung zu Hannah Arendt schließt, und zwei bisher unbekannte Texte "Über Palästina" aus den Jahren 1944 und 1958.
Die Aufsätze über Palästina sind überraschend und zugleich erschreckend aktuell; sie zeigen eine Realpolitik, hinter der "sich eine opportunistische Tagespolitik verbarg, die wegen ihrer Prinzipienlosigkeit … schließlich ein Chaos anrichtete, in dem überhaupt keine Ergebnisse mehr festzustellen waren" (S. 15) – ein Befund, dessen Folgen bis heute spürbar sind. Bei Arendt kann man alles finden, was zu der Unlösbarkeit des Problems geführt hat.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992