Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats März 2024
Kein Wunder, dass uns dieses Buch von Uwe Wittstock sofort aufgefallen ist: Der Anfang liest sich wie eine Reportage aus unseren Tagen. "Marseille 1940" erscheint als ein Modell für kommendes Unheil in unserer Zeit und unserer Welt – und wurde von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren im März auf Platz 1 unserer Sachbuchliste gewählt.
In "Marseille 1940" von Uwe Wittstock wird aus dem historischen Blick auf eine turbulente Zeit, in der wir vielen unserer bedeutenden Schriftsteller begegnen, ein starkes Buch über den Zusammenhang von politischer Willkür, brutaler Macht und ehrenvollem Widerstand.
"Die große Flucht der Literatur", so der Untertitel, ist auch eine Suche nach dem Ort, den Menschen suchen, wenn ihre Welt brennt. Natürlich haben wir es nicht nur mit kraftvollem Widerstand zu tun, sondern auch mit Spannungen unter Brüdern, aber auch mit großer Hilfsbereitschaft und gegenseitiger Fürsorge unter Kollegen, Konkurrenten, Mitmenschen unterschiedlicher Herkunft, die freilich einem gemeinsamen Schicksal unterworfen sind.
An dieses Jahr, an 1940, tastet sich Wittstock heran, genauer gesagt springt Wittstock von Stationen der Flucht durch Frankreich bis zum Ziel: bis Marseille und dem Weg ins Exil. Wir erfahren viel über Menschen in Not und Verzweiflung, lernen ihren Mut und Durchhaltewillen kennen und nehmen mit Erstaunen zur Kenntnis, wie sich schicksalhaft die Wege der Dichter, Künstler und intellektuellen aus Deutschland und Österreich an diesem Ort kreuzen.
Ob alle Details dieser Menschenjagd, die Wittstock uns erzählt, ganz und gar stimmen – manchmal erscheinen sie wie ein Blick durchs Schlüsselloch – mag dahingestellt sein. Aufschlußreich sind sie allemal.
Erfolgsgeschichte der Kunst
Die Renaissance gilt uns als Wiederentdeckung der Antike im Gewand der Kunst und des intellektuellen Lebens im spätmittelalterlichen, frühneuzeitlichen Europa. Wir bewundern den Aufbruch in künstlerische Freiheiten und einen Reichtum an gestalterischer Kraft.
Weniger bewusst ist uns zumeist, dass es neben der Auftragskunst von Fürsten noch andere gesellschaftliche Akteure gegeben hat, die die Erfolgsgeschichte der Kunst überhaupt möglich gemacht haben, die Kaufleute und Handelsherren. "Im Mittelpunkt des Buches", betont die Historikerin Ulinka Rublack in ihrem Buch "Dürer im Zeitalter der Wunder", "steht die These, dass die Kaufleute und ihre Mentalität ausschlaggebend waren für die Entstehung der Renaissancekunst und ihr Erbe für die moderne Kunst in einer kommerzialisierten Welt" (S. 17f.).
Dürer steht natürlich zurecht im Zentrum, weil er sowohl Künstler mit starker Emanzipationskraft als auch glänzender Vermarkter seiner Werke war. Wir lernen also viel über eine Gesellschaft im Auf- und Umbruch und lassen uns mit Erstaunen in eine Welt versetzen, in der gelehrtes Künstlertum, cleveres Verkaufsgeschick, höfische Eitelkeit und merkantiler Luxus ein lebhaftes Nebeneinander eingegangen waren.
Es war eine Zeit, in der das Sammlertum und der Kunsthandel einen gewaltigen – und vor allem: nachhaltigen – Aufschwung nahmen. Es ist nicht trivial zu sagen, das Buch lasse tief blicken in eine Gesellschaft, die sich mit Kunst, Kuriositäten, Nachrichten einen Überblick und Einblick in die überraschend vielgestaltige und ziemlich neue Welt machen wollte und der dies offenkundig auch gelang.
Chancen und Risiken
Einen Blick in eine ganz neue und wahrscheinlich sie gewaltig verändernde Welt werfen aktuell Bücher über "Künstliche Intelligenz". Zwei von ihnen stehen auf unserer Liste, mit recht unterschiedlichen Prognostiken: Mustafa Suleyman, selber IT-Spezialist und IT-Unternehmer, warnt in "The Coming Wave", bei allen Notwendigkeiten und Chancen der Künstlichen Intelligenz, vor dem Untergang der Menschheit – bei falscher Verwendung der IT. Die Sozial- und Kommunikationsforscherinnen Miriam Meckel und Léa Steinacker zeigen in ihrem Buch "Alles überall auf einmal" eher die Chancen und nützlichen Perspektiven. Klar ist: wir müssen uns mit KI intensiv beschäftigen.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992