Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats April 2024
Seit Jahrzehnten führt, will man sich intellektuell im Lande umsehen, kein Weg an Jürgen Habermas vorbei. Viele haben sich an seinen Thesen, Vorhaltungen, Einsichten und Absichten gerieben. Jürgen Fleschs Porträt des 94-Jährigen – "Der Philosoph" – ist auf Platz 1 im April. In weiteren Werken der Top 10 geht es um den Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Entfremdung zwischen Ost und West.
Er prägte die politischen Debatten der alten Bundesrepublik wie kein Zweiter; seit Jahrzehnten führt, will man sich intellektuell im Lande umsehen, kein Weg an Jürgen Habermas vorbei. Viele haben sich an seinen Thesen, Vorhaltungen, Einsichten und Absichten gerieben, die meisten haben ihn respektiert und von ihm profitiert und tun dies noch immer. Er ist: „Der Philosoph“. Unser Favorit ist demnach Philipp Fleschs sehr persönlich eingeführtes Porträt dieses, jetzt immerhin 94 jährigen, Mannes.
"In den 1990er-Jahren, nach der Wiedervereinigung, als viele seiner Kollegen in Fantasien von Deutschlands neuer Weltgeltung schwelgten, hatte Habermas darauf beharrt, auch in Zukunft der Bürger eines »universell-provinziellen Landes« sein zu wollen“ (S.11), schreibt Flesch schon am Anfang und setzt damit den Akzent auf eine merkwürdig deutsche, beinahe kleinbürgerliche Denktradition, die aus eben diesem klein umrankten eben ins Große Ganze hinaus will. Anders als die altvorderen Denker hat sich Habermas aber nicht nur mit dem 'großen Ganzen' beschäftigt und es in allzuoft entmutigend unzugängliche Bücher verwandelt, sondern zu den aktuellen, oft brennenden Fragen der Gegenwart Stellung bezogen.
Diese "Verschränkung – der Wechsel zwischen Distanz und Engagement, die Dialektik von Universalismus und Partikularismus“ (S. 17), macht Flesch als das Charakteristische von Habermas' Gesamtwerk aus. Damit gewinnt dieses lange Philosophenleben für Anhänger und – womöglich – Gegner noch einmal an Präsenz. Und mit ihm eine ganze Generation von Intellektuellen. Wo ist sie geblieben? Ein beachtlicher und ehrenhafter Versuch der Annäherung.
Bücher, die wie Comics daherkommen
Die gerade zurückliegende Buchmesse in Leipzig hat gezeigt: neben die Bücher, wie wir sie kennen und in unserer Liste seit vielen Jahren wertschätzen und – mehr oder weniger subjektiv - bewerten, treten immer mehr solche, die ernst zu nehmen wir erst lernen müssen: Bücher, die wie Comics daherkommen, die auf visuelle Informationen ebenso setzen wie auf das Wort und die lineare Reihung von Wörtern und Sätzen durcheinanderwirbeln.
Junge Leser:innen sind es, die diese Bücher für sich entdeckt haben, und uns ist auch eins aufgefallen: "Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg“, die die deutsch-amerikanische Illustratorin und Autorin unter dem Titel "Im Krieg“ geschrieben und eben auch illustriert hat. Aus diesem Buch ist, so ein Kritiker, "ein außergewöhnliches Zeitdokument“ geworden, das den Krieg auf beiden Seiten, der Ukraine und Russland, auf ziemlich verstörende – und buchstäblich anschauliche - Weise zeigt.
Entfremdung von Ost und West
Und dann gibt es noch einen anderen Blick auf den Osten, der uns aufgefallen ist: "Der Osten und das Unbewusste" heißt die Untersuchung, die Andreas Petersen angestellt hat. Ihn interessiert die Unterdrückung psychoanalytischer Fragestellungen in Osteuropa als Mittel der Kollektivierung der Menschen. Diese Verbannung und Verfolgung aller individualpsychologischer Ansätze zur Erkundung des Menschen hat, so der Autor, zur weitgehenden Entfremdung von Ost und West beigetragen. Überwunden, so zeigt Petersen, ist sie noch nicht, jedenfalls nicht ganz.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992