
Hintergrund - Algerien und die Gründe der Verhaftung von Boualem Sansal
Wie kam es zur Verhaftung des Schriftstellers Boualem Sansal und was ist über seinen Zustand bekannt? Der Algerien-Experte Claus Leggewie berichtet und erläutert im Interview mit Tomas Fitzel die historische Entwicklung und die aktuelle Situation in Algerien.
Claus Leggewie, Sie berichten immer wieder über Algerien. Wie regelmäßig sind Sie selbst noch in Algerien unterwegs?
Im vorigen Jahrhundert war ich sehr häufig in Algerien, auch noch während des Bürgerkrieges in den 90er-Jahren und danach. Aber danach beschränkten sich die Kontakte mehr und mehr auf Exil-Algerier, da mir das Regime immer suspekter wurde und ich immer weniger Lust verspürte, noch nach Algerien zu reisen.
Müssten auch Sie selbst aktuell bei der Einreise mit Schwierigkeiten rechnen?
Dies ist durchaus denkbar, da ich mich sehr stark für Boualem Sansal eingesetzt habe und auch weiter einsetzen werde. Ich bemerke schon, dass meine Zeitungsartikel über Algerien von der algerischen Botschaft in Berlin sehr kritisch beäugt werden.
Reden wir über Boualem Sansal. Die Verhaftung kam doch sehr überraschend. Warum jetzt? Sansal zu verhaften für Äußerungen, für die er wahrscheinlich auch in Algerien nur wenig Unterstützung finden würde.
Warum jetzt? Ich glaube, dass Algerien ein Interesse hat, einen Konflikt mit Frankreich zu inszenieren. Algerien besitzt grundsätzlich eine sehr schwache nationale Identität. Umso schriller sind immer die nationalistischen Töne. Und umso empfindlicher ist das Regime, wenn jemand wie Sansal im französischen Fernsehen die nationale territoriale Integrität angeblich attackiert. Und hier ist er regelrecht zum Sündenbock geworden, zu einem Spielball des algerischen Regimes gegen Frankreich. Dies hat damit zu tun, dass Frankreich in der letzten Zeit sich sehr viel stärker Marokko angenähert hat. Es waren kürzlich sogar zwei Regierungangehörige in Marokko und haben dort Kulturinstitute eingeweiht und zwar auf dem Territorium der Westsahara.
Das klingt jetzt kompliziert. Aber die Westsahara, eine frühere spanische Kolonie, ist 1975 von Marokko widerrechtlich annektiert worden. Die Vereinten Nationen verlangen seither, dass in der Westsahara eine Abstimmung stattfinden müsste, zu wem die Sahrauis (Bewohner der Westsahara) gehören oder ob sie unabhängig werden wollen. Marokko hat sich dieses Territorium mit seinen reichen Bodenschätzen einverleibt. Algerien ist wiederum die Schutzmacht der "Polisario", der Befreiungsfront Westsahara. Dieser Konflikt zwischen Algerien und Marokko besteht schon seit den 60er-Jahren, führte bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen an der Westgrenze und ist sozusagen wieder aufgeflammt.
Ein zweites Element ist die Haltung zu Israel. Sansal wird nicht nur verdächtigt, einen Teil des algerischen Territoriums historisch Marokko zuzurechnen, wie er es in einem Interview geäußert hat, sondern eben auch israelfreundlich zu sein. Er ist nach Israel gefahren, hat Kontakte mit israelischen Schriftstellern und gehört deswegen nicht zu denjenigen in Algerien, angefangen beim Regime bis zu vielen Menschen auf der Straße, die sich als antizionistischer Frontstaat gegen Israel verstehen und ganz unverbrüchlich selbst hinter radikalen Forderungen der Palästinenser stehen.
Also gleich ein doppelter Tabubruch von Sansal. Dass dies in der algerischen Bevölkerung kaum Resonanz findet, stört das Regime weniger. Dieses ist jetzt vielmehr in Richtung Paris aktiv geworden. Das Regime kann aber, wenn es um nationale Fragen geht, mit der Zustimmung der Mehrheit der algerischen Bevölkerung rechnen. Auch die Demokratiebewegung Hirak 2019 kämpfte nicht nur gegen das Regime für mehr Demokratie, sondern verstand diesen Kampf gegen das eigene Regime von ehemaligen Befreiungskämpfern zugleich als eine Fortsetzung des Kampfes gegen die Kolonialmacht Frankreich.
Und letzter Punkt: Algerien ist nicht nur in Sachen Sansal hier aktiv geworden, sondern schickt offenbar auch Influencer auf den Weg, die in Frankreich die öffentliche Meinung, das heißt vor allem die der dritten und vierten Generation algerischer Einwanderer, gegen Frankreich aufbringen sollen und die damit indirekt den Islamismus in Frankreich stärken.
Wie hat sich denn die Situation in Algerien insgesamt verändert? Sie haben auch immer wieder über Verhaftungen von Journalisten berichtet. Viele Dinge sind noch unklar, z.B. die Situation der Verschwundenen. Ist die Verhaftung von Sansal auch ein Zeichen einer nach innen verstärkten Repression?
Alle berichten mir, auch Algerier, die im Ausland leben und die bei der Einreise Schwierigkeiten bekommen haben, dass das Regime die Zügel angezogen hat. Die übrigens sehr stark von Frauen getragene Demokratiebewegung Hirak war 2019 für das Regime eigentlich ein Schock. Diese Demokratiebewegung wurde allerdings durch die Corona-Pandemie unterbrochen. Dann konnte der stark verunsicherte Sicherheitsapparat zuschlagen, die Zügel wieder anziehen und sich an denen rächen, die sich in dieser Periode und danach kritisch zum Regime geäußert haben.
Wenn auf jemanden der Verdacht gelenkt wird, er sei ein Islamist, dann ist das sehr leicht. Es gibt z. B. angeblich eine von London ausgehende islamistische Verschwörung. Dies kann man sehr leicht über die verschiedenen Sozialen Medien verbreiten. Ähnlich wenn jemand im Verdacht steht, den Islam, der ja immer noch eine Art Staatsreligion ist, zu kritisieren.
Algerien ist immer ein Regime gewesen, in dem die Armee die eigentliche Macht besaß. Während der Proteste 2019 wurden sie als Mumien bezeichnet. Dies spielte auf den todkranken Staatspräsidenten Abd al-Aziz Bouteflika an. Die Mumien sind sozusagen jetzt wieder aufgewacht und üben Druck aus. Und die internationale Lage ermuntert sie dazu: erstens wird Erdöl und Erdgas wieder sehr stark nachgefragt und zweitens ist Algerien auch ein Verbündeter Putins und Xi Jinpings. Das heißt, in dieser Front des globalen Südens gegen den Westen spürt man hier Morgenluft.
Aber es gibt sowohl in der Bürokratie wie unter den Unternehmern sehr viele Menschen in Algerien, die stattdessen Geschäftsbeziehungen zu den europäischen Ländern, auch zu Frankreich und ebenso den Vereinigten Staaten wünschen. Doch das Regime nimmt hier eine politische Frontstellung ein, die dazu führt, dass Menschen aus der inneren Opposition relativ willkürlich beobachtet, ihrer finanziellen Mittel beraubt oder eben auch einfach ins Gefängnis gesperrt werden.
Sie waren vor Kurzem bei der Solidaritätsveranstaltung in Paris im Institut du Monde Arabe. Wie ist die Solidarität in Frankreich? Es gab durchaus auch kritische Artikel in Frankreich, zumal Sansals Aussagen über die Westsahara schon irritierend waren.
Die Veranstaltung in Paris hatte zunächst einmal einen sehr wichtigen Effekt: sie hat Sansal lebendig gemacht. Wir haben dort über seinen Verleger und seinen Anwalt, über Freunde und Unterstützer, die aus seinen Texten gelesen haben, eine Personen geschildert bekommen, die ich persönlich auch so kennengelernt habe: Als einen sehr angenehmen, ruhigen, bedachten Menschen, der aber gleichzeitig voller Zorn ist über die Entwicklung des algerischen Regimes in Richtung eines Polizei- und Sicherheitsstaates. Der voller Zorn ist gegen das sehr seltsame Verhältnis dieses eigentlich ursprünglich laizistisch säkularen Regimes mittlerweile zum Islam bis hin zum Verständnis für islamistische Gruppen, nicht nur in Algerien, sondern auch weltweit.
Sansal ist seit Jahren in Algerien unterdrückt. Seine Bücher werden dort nicht auf, sondern unter dem Ladentisch gehandelt. Er wird vollständig ignoriert. Was auch einfach ist, da er nicht in Arabisch schreibt, sondern auf Französisch. Weil er sich für die Sache der Berber, der Bevölkerungsmehrheit in Algerien in seinen Schriften immer wieder eingesetzt hat. Weil er die seltsame Beendigung des Bürgerkriegs zwischen dem Regime und den Islamisten kritisierte, in dem viele säkulare Intellektuelle, wie Sansal, wie viele meiner Kollegen an der Universität Algier zwischen die Fronten geraten sind. Weil er das alles öffentlich macht, genau wie sein Freund, der Schriftsteller Kamel Daoud.
Also hier ist ein Mensch, der völlig zu Unrecht wegen eines sogenannten Meinungsdeliktes in den Kerker geschickt wurde, lebendig geworden. Und wir hoffen, dass er in irgendeiner Weise etwas mitbekommt von der Solidarität, die er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland und vielen anderen Ländern jetzt erfährt.
Dass auch in Frankreich Sansals Verhalten teilweise kritisch betrachtet wurde, liegt daran, dass insbesonders die Linke zu den Algerierinnen und Algeriern der dritten und vierten Einwanderergeneration eine Beziehung aufbauen und halten möchte. Unter denen sind sehr viele, die sich an Sansals Islamkritik, es ist nicht nur eine Kritik am Islamismus, sondern am Islam selbst, stören.
Im Blick auf diese möglichen Wählergruppen der eingewanderten Algerierinnen und Algerier unterstützen Teile der Linken die Aktion gegen Sansal zumindest indirekt. Aber dies nenne ich Feigheit, wenn Meinungsfreiheit so verraten wird. Dies passt aber zu manchen stalinistischen Attitüden der Linksfront in Frankreich.
Was wissen Sie über Sansals momentanen Zustand? Er soll einen Hungerstreik begonnen haben. Was kann man über seine Anwälte erfahren? Welchen Zugang haben diese überhaupt zu ihm?
Man kann eben nichts erfahren. Er hat, das ist relativ sicher, einen Hungerstreik angekündigt. Ob er ihn auch durchgeführt hat und aushält, was ausgesprochen bedrohlich für seine Gesundheit wäre, das weiß ich nicht. Das weiß aber niemand.
Und die Frage nach den Anwälten: Es gibt französische Pflichtanwälte, die er aber nicht anerkennt. Sein Anwalt François Zimeray aus Paris, der den Gallimard-Verlag, den Hausverlag von Sansal vertritt, bekommt kein Visum und konnte seinen Mandanten daher bisher noch nicht sehen. Es gibt auch keine offizielle Mandantenschaft für Sansal aus Frankreich und dies wäre natürlich das einzige, was ihm helfen könnte.
Aber die Begründung, warum François Zimeray ihn nicht sehen darf, ist sehr interessant. Kürzlich sind offenbar Leute zu Sansal ins Gefängnis gekommen und haben gesagt, es gäbe schon eine Möglichkeit, dass er einen französischen Anwalt bekommt. Aber der dürfe kein Jude sein. François Zimeray ist ein säkularer Jude, der sich auch sehr stark für Israel eingesetzt hat. Dies berichtet die französische Zeitschrift "Marianne". Es gibt keine zweite Quelle, aber es scheint wohl bestätigt zu sein.
Also hier sehen Sie, wie der Fall politisiert wird. Es geht nicht darum, einen Angeklagten ordentlich nach einem rechtsstaatlichen Prinzip, das eigentlich von der Verfassung her in Algerien gelten müsste, zu vertreten, sondern es geht darum, hier einen Fall zu schaffen, der in die postkoloniale Auseinandersetzung um Israel und Palästina hineinragt.
Hier wird blanker Antisemitismus an den Tag gelegt, der für die algerische Nation sowohl vor der Unabhängigkeit 1962 wie auch danach immer eine Rolle gespielt hat. Der Befreiungskampf des FLN (Nationale Befreiungsfront) ist auch von Antisemiten, wie dem Schweizer Bankier François Genoud, stark unterstützt worden. Also hier ist sozusagen eine wunde Stelle des algerischen Befreiungskampfes wieder aufgeplatzt. Hier sieht man auch, wessen Geisteskind dieses Regime ist.
Also, es muss unbedingt etwas unternommen werden. Sehr wichtig wäre jetzt, dass man vor allem auf die gesundheitliche Lage von Sansal Rücksicht nimmt und vielleicht in einem humanitären Sinne ein Ärzteteam nach Algerien schickt. Oder dass man anregen würde, Sansal als kranken Mann nach Europa zu verlegen. Und wenn es eben nicht Frankreich sein darf, dann könnte es Deutschland sein.
Es ist eine unglaubliche Ironie, dass Abd al-Aziz Bouteflika, der todkranke Vorgänger des gegenwärtigen Staatspräsidenten Abdelmadjid Tebboune, 2020 wochen- wenn nicht monatelang im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz gepflegt werden konnte. Also den Autokraten hat uns die Nomenklatura geschickt. Da wäre es doch nur recht und billig, uns einen Oppositionellen nach Deutschland zu entlassen, der eine sehr viel engere Beziehung zu Deutschland hat als ein Autokrat wie Bouteflika.
Daher appelliere ich an die deutsche Bundesregierung, dass sie dringend aktiv wird im Fall Sansal. Der Mann ist immerhin ein Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels und auf dem deutschen Buchmarkt sehr gut vertreten. Seine beim Merlin-Verlag erschienenen Bücher werden durchaus viel gelesen und gewürdigt. Ich finde, dass wir unsere Zurückhaltung aufgeben müssten und deutlich machen, dass auch wir in Deutschland für Sansal einstehen.
Wenn wir bei der möglichen deutschen Rolle sind, woher stammt das positive Bild Deutschlands, dem man immer wieder begegnet, wenn man als Deutscher in Algerien unterwegs ist?
Das habe ich persönlich auch so erfahren und war darüber ebenso sehr überrascht. 1984 veröffentlichte ich ein schmales Buch im Rotbuch-Verlag mit dem Titel "Die Kofferträger". Die Kofferträger waren vor allem junge Studierende aus dem "Sozialistischen Deutschen Studentenbund", aber auch viele Kirchenleute, Gewerkschaftler oder SPD-Mitglieder um den damaligen jungen SPD-Abgeordneten Hans Jürgen Wischnewski, der den Beinamen Ben Wisch erhielt.
Das waren Leute, die sich während des Befreiungskrieges beginnend 1957, 1958 für die algerische Sache eingesetzt haben und zwar in unterschiedlicher Intensität. Man nannte sie Kofferträger, weil sie Dinge für die Algerier transportiert haben. Das ging von Propagandaschriften, über die Einnahmen des FLN aus der Kriegskasse, die hier den algerischen Gastarbeitern abgezweigt wurden, bis hin zu Waffen. Das wurde über die grüne Grenze zwischen Frankreich und Deutschland hin und her transportiert.
Das heißt, hier gab es sozusagen eine logistische Unterstützung von einer vielleicht nicht mehr als 200 bis 400 Leute umfassenden Anzahl von Deutschen, die sich für die algerische Unabhängigkeit eingesetzt haben. Das war übrigens damals durchaus im Sinne der Weltöffentlichkeit. Auch ein damaliger Senator und späterer Präsident, John F. Kennedy, hat von den Franzosen verlangt, Algerien unabhängig zu machen.
Also, wir haben uns für die algerische Unabhängigkeit eingesetzt. Der FLN war nach 1959 in Bad Godesberg in der tunesischen und marokkanischen Botschaft untergebracht und dies mit dem Wissen der Regierung Adenauer. Hier sieht Algerien einen großen Verdienst Deutschlands und das hat dann dazu geführt, dass nach 1965 Hans Jürgen Wischnewski sich für eine enge Kooperation in der Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt hat. Wischnewski wurde dann auch Entwicklungsminister in der Bundesregierung der SPD. Beispielsweise haben wir Polizeifahrzeuge und -ausrüstung bis hin zu Waffen nach Algerien geliefert und dergleichen mehr.
Und wir haben immer wieder auch Wirtschafts- und Technologiebeziehungen zu Algerien unterhalten, nicht in einem riesigen Umfang, aber durchaus mit dem Hintergrund, dass Algerien ein wichtiger Lieferant von Erdöl und Erdgas ist. An diese Beziehung wird immer wieder angeknüpft, aber sie versandet noch häufig in der algerischen Bürokratie.
Gekürzte Fassung eines Gesprächs, das Tomas Fitzel am 4. März 2025 führte.