Musikfest Berlin 2019/ Patrice Nin: Tugan Sokhiev
Musikfest Berlin 2019/ Patrice Nin
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Philharmonie Berlin - Tugan Sokhiev dirigiert die Berliner Philharmoniker

Bewertung:

Der Dirigent Tugan Sokhiev ist in Berlin noch in guter Erinnerung als Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters. Jetzt gastierte er bei den Berliner Philharmonikern mit der vierten Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch. Und der junge Pianist Alexandre Kantorow gab sein Debüt.

Alexandre Kantorow ist nicht das erste Mal in Berlin. Vor knapp einem Jahr spielte er mit der Staatskapelle Berlin das erste Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow. Und schon da war klar: ein unglaubliches Talent, gerade mal Mitte Zwanzig.

Technisch hat er schier unbegrenzte Möglichkeiten, und er will etwas sagen: Das erinnert an ein Rennpferd vor dem Start, das nur darauf wartet, losgelassen zu werden.

Technik im Schwarzen Loch

Ausgesucht hat sich Kantorow das zweite Klavierkonzert von Franz Liszt. Mit reiner Technik kann man hier nicht viel punkten. Das Virtuose hält sich – für Liszts Verhältnisse – einigermaßen in Grenzen. Dafür ist das Klavier mit dem Orchester kammermusikalisch verzahnt – sehr innerlich, poetisch, fein abgezirkelt. Nicht umsonst hat Liszt über 30 Jahre an diesem Stück gefeilt.

Kantorow will etwas. Aber er wirkt aufgeregt. Das Virtuose rutscht ihm weg, die Girlanden rauschen in den Abgrund, wie von einem Schwarzen Loch angezogen. Aus den schwärmerischen Momenten will er ständig etwas machen, aber es wirkt unruhig und nervös. Ganz eindeutig: Er hat etwas zu sagen, ist eine bemerkenswerte musikalische Persönlichkeit, aber es entgleitet ihm zu oft.

Das Sangliche und das Schwere

Ganz bei sich ist Alexandre Kantorow in seiner Zugabe: einem kleinen Stück des katalanischen Komponisten Federico Mompou (Cançon i dansa 6, leider nur der erste Teil). Das hatte Ruhe, Sanglichkeit, Intensität, da hat er für eine gute Minute die Zeit angehalten. Das könnte ein Ansatz sein, seine großen Ausdrucksmöglichkeiten auf größere Werke zu entfalten.

Nun hat Tugan Sokhiev am Pult der Berliner Philharmoniker das Liszt-Konzert entsetzlich ernst genommen. Das klang mehr nach Tschaikowsky. Zehn Kilo weniger wären besser gewesen. Immerhin – die vielen Soli, die das Konzert auch im Orchester bietet, haben die Philharmoniker mit Freude wahrgenommen – ein absoluter Genuss!

Alexandre Kantorow, Pianist © Sasha Gusov
Alexandre Kantorow | Bild: Sasha Gusov

Die brutale Wahrheit

Wer die vierte Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch auf das Programm setzt, muss wissen, was er mit dieser Musik will. Schostakowitsch war in die Mühlen der stalinistischen Verfolgung geraten, hatte mit diesem Werk voller Sarksamus, Ironie und Brutalität dem Terror des Regimes ein klingendes Horror-Porträt geschaffen. Und es kurz vor der Uraufführung zurückgezogen. Ob er zuvor einen Wink bekommen hatte oder ob er selbst ahnte, dass es für sein Überleben keine gute Idee gewesen wäre, das aufzuführen, bleibt offen.

Tugan Sokhiev lässt keinen Zweifel an der Härte, Tragik und ungeschönten Grausamkeit dieser Musik. Ironie findet hier nicht statt. Dafür spürt man siebzig Minuten lang nackte Angst und schonungslose Hoffnungslosigkeit, fühlt sich geradezu niedergewalzt. Unmöglich, bei diesen Klängen nicht an den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu denken.

Man fühlte sich in den Sessel gedrückt ob dieser Klangwalze. Am Ende, nach dem geradezu geisterbahnartigen Schluss herrschte lange absolute Stille im Publikum, und man musste erst einmal tief durchatmen. Ich kann mich nicht erinnern, das einmal so fatalistisch, düster und schwarz gehört zu haben. Grandios.

Andreas Göbel, rbbKultur