Radialsystem - "Spiegelneuronen" von Stefan Kaegi, Sasha Waltz & Guests mit Rimini Protokoll
Spiegelneuronen, Nervenzellen im Gehirn, könnten dafür mitverantwortlich sein, dass wir gähnen, lachen oder weinen, wenn es andere Menschen tun. Sie könnten mitverantwortlich sein für Empathie, für das Nachempfinden der Gefühle anderer, für gegenseitiges zwischenmenschliches Verstehen, für das Nachempfinden bestimmter Handlungen, wie etwa das Tanzen. Die Theorien rund um Spiegelneuronen sind die Themen des neuen Stückes von Stefan Kaegi, dem Regisseur des Berliner Dokumentartheater-Projektes Rimini Protokoll, seine erste Zusammenarbeit mit Tänzerinnen und Tänzern von Sasha Waltz.
Spiegelneuronen, vor 30 Jahren zufällig bei einem Experiment mit Affen entdeckt, galten einige Jahre als Stars der Hirnforschung: Nervenzellen im Gehirn, die aktiv werden, wenn man eine Handlung ausführt und wenn man sie bei einer anderen Person nur beobachtet.
Spiegelneuronen – verantwortlich für alles?
Sehr schnell sollten Spiegelneuronen für alles verantwortlich sein: für Beobachten, Simulieren und Lernen, für das Nachempfinden von Gefühlen, verantwortlich für Empathie, die Entwicklung von Sprachen, von Gesellschaften. In der gegenwärtigen Hirnforschung wird das als wissenschaftlich nicht haltbar betrachtet – aber Spiegelneuronen faszinieren noch immer. Und das nutzt Stefan Kaegi für Mitmachtheater und Theoriewust.
Ein riesiger Spiegel und Mitmachaktionen
Direkt vor der Tribüne ist ein riesiger Spiegel aufgebaut, wir Zuschauer sehen uns selbst, was zunächst Verlegenheit auslöst, Scham, Übersprungshandlungen wie Winken, um sich selbst im Spiegel zu finden. Dann entstehen im Publikum Bewegungen, die immer synchroner ausgeführt werden. Mit den Händen wedeln, Arme hin und her schwenken, Oberkörper wiegen. Alle Zuschauer sehen sich im Spiegel und immer mehr machen mit bei diesen Aktionen, die im Verlauf der 80 Minuten immer größer werden. Bis viele Zuschauer aufstehen, Hüpfen, Tanzen, zu Partymusik Luftballons durch den Raum schubsen und am Ende bei der Karaoke-Aktion mitsingen, bei der Konzertaufnahme von "Creep", dem Superhit von Radiohead.
Mitmachen und Nicht-Mitmachen
Aber nicht alle Zuschauer machen mit. Und da wird es interessant dank der Text- und Theorieebene des Abends, die genau das verhandelt: Wer macht mit bei synchronen Massenbewegungen? Diejenigen, die sich im Aufgehen in einer Gemeinschaft wohl fühlen oder die auf den Mitmachdruck der Masse reagieren? Wie wichtig für eine Gesellschaft ist das Nichtmitmachen, die Skepsis gegenüber einer gleichförmig agierenden Masse, der Widerstand? Oder sind die Nicht-Mitmacher nur schüchtern, fühlen sich in großen Gruppen unwohl? Oder sind sie Individualisten in einer Gesellschaft, die uns zum Individualismus zwingt? Und was bedeuten die Glücksgefühle der Mitmacher, können die Nicht-Mitmacher diese dank der Spiegelneuronen auch empfinden?
Das Verführtwerden und Ausgeschlossensein
Das Stück ist auch eine Art Lehrstunde über das Verführtwerden, denn es sind die Tänzerinnen und Tänzer von Sasha Waltz im Publikum, die alle Bewegungen auslösen. Eine Lehrstunde über das Ausgeschlossensein: manche wollen vielleicht mittanzen, können aber nicht. Eine Lehrstunde über Einsamkeit, wenn man nicht den Normen und Regeln der Mehrheit folgt.
Theoriewust und Dokumentartheater
Das ist der Theoriewust der "Spiegelneuronen". Stefan Kaegi streut Zitate aus seinen Interviews mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein: Kulturwissenschaftler, Soziologen, Neurowissenschaftler, Psychologen. Und in den Zitaten werden die großen Themen angesprochen: anthropologische, soziologische, psychologische Thesen, z.B. über Gesellschaft und Demokratie: wenn alle mitmachen, hat eine Gesellschaft Stabilität, aber es braucht auch Flexibilität für Veränderung. Es gibt neurowissenschaftliche Thesen über die Unmöglichkeit von Entscheidungsfreiheit, psychologische Thesen über die Angst vor Berührung oder die Sicherheitszone, die Menschen um sich herum brauchen. Oder, fragt die Hirnforschung, sind doch alles nur elektro-chemische Vorgänge im Gehirn?
Das ist das Dokumentartheater von Stefan Kaegie, von der Berliner Gruppe Rimini Protokoll: Theorien von Experten vorgetragen und in immersive Theaterprojekte umgesetzt, also in Beteiligung von Zuschauern
Theorieebene verpufft – Mitmachtheater funktioniert
Die Vielfalt der Thesen und Theorien ist ausufernd und oft werden sie nur mit zwei, drei Sätzen der Wissenschaftler unterlegt, ein Nachdenken oder gar Diskutieren ist nicht möglich. Die Theorieebene verpufft. Als zum Beispiel die meisten Zuschauer mit den Luftballons spielen, fällt der Satz: "Schwarmintelligenz kann auch Schwarmdummheit sein." – den dürften aber viele nicht mitbekommen haben.
Das Mitmachtheater funktioniert hingegen prächtig. Die Mitmachaktionen sind einfach, viele hatten Spaß dabei, haben sich verbunden gefühlt, hatten ein schönes Gemeinschaftserlebnis.
Insgesamt ist dieses Stück klug gedacht, aber überdimensioniert umgesetzt.
Frank Schmid, radio3