Berliner Ensemble - "Hedda" von Henrik Ibsen
Mit "Hedda Gabler" hat Hendrik Ibsen den Inbegriff eines konventionellen Frauenlebens beschrieben und zugleich die Werte seiner Zeit hinterfragt. Das Team um WORX-Regisseur und Drag Queen Heiki Riipinen will den Klassiker neu aufladen und über das Heteronormative hinaus erweitern.
Da liegt sie. Hedda Gabler, erschossen auf dem Wohnzimmerboden. Um ihren Kopf eine Plastikpütze aus Blut und Gehirn. Das Publikum steigt über sie hinweg, um zu den Sitzplätzen zu gelangen. Hedda rührt sich nicht.
Deshalb also hatten die Schauspieler:innen Nina Bruns und Max Gindorff uns bereits im Foyer stumm aufgefordert, die Hände vorzuzeigen, als wollten sie schauen, ob daran Blut klebt. Danach sperrten sie die Türen zum Theatersaal ab wie einen Tatort und führten uns über die Außentreppe in den kleinen Werkraum des Berliner Ensembles, den Raum des Theaters für Experimente. Hier stoßen wir nun auf die Leiche von Hedda Gabler – der finnisch-norwegische Nachwuchsregisseur rollt Henrik Ibsens gleichnamigen Klassiker also mit diesem coolen, ungewöhnlichen Start vom Ende auf.
Hedda Gabler - die erste ruchlose Feministin des Bürgertums
Erst jetzt beginnt das Stück nach Ibsen: Tante Julle herzt ihren Neffen Jørgen, der nach seiner sechsmonatigen Hochzeitsreise endlich zurückgekehrt ist und mit Hedda ins neue Heim zieht, das die Tante und der befreundete Richter Brack für die luxusverwöhnte Hedda so schick eingerichtet haben, wie es ihr Geschmack erlaubt.
Wie Komödienfiguren spielen Marc Oliver Schulze und Max Gindorff Neffe und Tante und hüpfen derweil vergnügt über Heddas Leiche, als wäre sie nicht da. Doch pünktlich zu ihrem Einsatz springt Hedda auf, zieht die Patrone, mit der sie sich erschossen hat, aus der Schläfe – und das Stück nimmt seinen Lauf.
Hedda Gabler ist bei Ibsen keine sympathische Figur. Er zeichnet sie als eiskalte, gelangweilte Frau, die einmal in ihrem Leben Macht über einen Menschen haben will, und ihrem früheren Geliebten deshalb die Pistole zum Suizid in die Hand drückt. Wenigstens ist sie jedoch nicht das traute Heimchen am Herd – man könnte also auch sagen: Mit Hedda Gabler hat Ibsen Ende des 19. Jahrhunderts die erste ruchlose Feministin des Bürgertums erschaffen.
Textlich erstaunlich nah am Original
Pünktlich zum Internationalen Frauentag lässt Heiki Riipinen den Text nun erstaunlich nah am Original spielen. Das verwundert auch deshalb, da Riipinen bei seinem ersten Projekt im Werkraum (im Rahmen des WORX-Programms darf er zwei Inszenierungen über ein Jahr entwickeln) ganz anders gearbeitet hat: Von 22 Uhr bis vier Uhr morgens hatte er zu einer Insomnia-Reise durch die Nacht geladen, mit Iphigenie, Don Juan und vielen nordischen Trollen. Eine sehr freie Performance, bei der Riipinen selbst auf der Bühne stand.
Man konnte also davon ausgehen, dass er mit dem guten, alten Ibsen etwas Verwegenes anstellen würde. Doch zu sehen ist die Hedda aus dem 19. Jahrhundert, die den langweiligen Jørgen nur der aussichtsreichsten Karriere wegen heiratet. Für ihn hat sie Ejlert Løvborg verlassen, den Mann, den sie vielleicht sogar geliebt hat. Ausgerechnet dieser talentierte Ejlert Løvborg mausert sich nun zu Jørgen größtem Konkurrenten. Auch deshalb muss Hedda ihn aus dem Weg schaffen.
Schrille, schwarze Komödie mit queerer Ausstattung
Vor allem Marc Oliver Schulze, der diesen Jørgen sehr gekonnt als naive, bräsige Pantoffelhelden-Witzfigur spielt, die seiner Frau die ausgelatschten, stinkigen Hausschuhe ständig unter die Nase hält, macht den Abend zu einer schrägen, schrillen, schwarzen Komödie. "Denk dir mal!", sagt er in jedem Satz, und "Stell dir mal vor, was!" Eine unfassbar nervige Marotte.
Der kleine, intime Werkraum tut sein Übriges, sich dem Ensemble so nah zu fühlen wie im heimischen Wohnzimmer. Die Möbel sind von Tüchern verhängt wie im Zimmer einer Toten und werden erst nach und nach enthüllt. Louise-Fee Nitschkes Drag-Queen-Kostüme geben dem alten Stück dann allerdings den neuen Anstrich. Ejlert Løvborg gleicht bei Paul Zichner in fliederfarbenen Tüll-Rüschen und lila Lidschatten einem queeren Don Juan. Hedda dagegen trägt ein hautfarbenes Latex-Kleid bis über die Fingerspitzen: eine weibliche Haut, die sie niemals ablegen können wird.
Zur queeren Ausstattung passt, dass die Nebenfiguren allesamt crossgender besetzt sind: Frauen spielen Männer und umgekehrt. Das ändert letztlich allerdings wenig an den Figuren: Richter Brack bleibt auch bei Nina Bruns ein männlicher Richter.
Erfrischende Ibsen-Groteske
Am vielschichtigsten gerät die Titelfigur: Hedda ist hier weder die bösartige Hexe noch bleibt sie das blutige Opfer am Tatort. Pauline Knof spielt sie als kluge, ausgebuffte, völlig unterforderte Frau, die alle sogenannten männlichen Eigenschaften hat, die sie nicht haben darf: Sie will Macht, sie will Öffentlichkeit, sie will eine Aufgabe – und sie will keine Kinder. Nicht eiskalt ist sie, sondern eifersüchtig, sehnsuchtsvoll, frustriert – und zwar zu Recht. Denn sie wird dem Käfig der Ehe und der guten Sitten nie entkommen können. Bitter komisch, wie sich Pauline Knof ironisch über ihren Mann mokiert und ihr gleichzeitig die Verzweiflung ob der Situation im Gesicht steht.
Und obwohl Frauen heute nicht mehr heiraten müssen, um versorgt zu sein (es sei denn, sie möchten Kinder), so ist doch die Frau, die so viel Machtgebaren, Scharfsinn und Berechnung an den Tag legt, wie man das Männern zuschreibt, noch immer ein Tabu. Ganz abgesehen vom ganz alltäglichen Sexismus, der Frauen die Karriere erschwert.
Diese Relevanz für die Gegenwart macht aus der Inszenierung noch keine bahnbrechende Neuinterpretation. Doch Ibsen gelesen als komische, kurzweilige Groteske, ohne den altbekannten Naturalismus – das ist durchaus schön erfrischend.
Barbara Behrendt, rbbKultur