Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats November 2023
Es ist wohl nur ein Zufall, vielleicht aber auch ein Zeichen, dass das "israelische Tagebuch" Saul Friedländers ausgerechnet jetzt erschienen ist, in einer Zeit, die ganz unter dem Eindruck der schrecklichen Geschehnisse in Israel und Palästina steht. Von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren wurde sein "Blick in den Abgrund" auf Platz 1 unserer Sachbuchliste gewählt.
Saul Friedländer, 1932 in Prag geboren, Mitbegründer des Staates Israel, hat mit seinem Buch buchstäblich einen "Blick in den Abgrund" getan. Das soll schon etwas heißen für einen der bekanntesten und angesehensten Historiker Israels. Natürlich bezieht er sich nicht auf die unmittelbare aktuelle Situation nach dem Überfall der Hamas. Seinen Blick in den Abgrund hat ihn zu einer Fundamentalkritik an der Politik Netanjahus geführt.
Wer dieses Buch liest, versteht den Vorwurf vieler Israels, Netanjahu und seine immer autoritärer gewordene Regierung habe maßgeblich zur Instabilität Israels geführt und letztlich den brutalen Überfall der Hamas auf das Land möglich gemacht. Die Entwicklung Israels der letzten Monate, insbesondere der Kampf um die Justizreform, verfolgt Friedländer aus der Ferne, aber mit äußerster Genauigkeit und mit größter Anteilnahme – auf Seiten der Gegner der Reform, der Regierungskritiker und -gegner – das versteht sich von selbst.
Doch er fragt, ob die Kraft des demokratischen und liberalen Teils der Bevölkerung Israels ausreicht, "um seine Überzeugungen und Ideale auf Dauer zu verteidigen? Wird er weiter gegen die fortwährenden Versuche dieser oder einer ähnlichen Koalition ankämpfen, die Freiheit unserer Bürger und die Chance auf eine möglichst humane und gerechte Lösung des Konflikts mit den Palästinensern zu untergraben?" (S. 237). Die Antwort ist vollkommen offen.
Paris und die ersten Jahre in den USA
Es gibt Kritiker, die den Anspruch Thomas Meyers, "die Biografie" der jüdisch-amerikanischen Philosophin Hannah Arendts geschrieben zu haben und gänzlich neue Seiten ihres Lebens ans Tageslicht gebracht zu haben, für überzogen bzw. nicht recht erfüllt sehen. Unsere Jury hält freilich doch viel von diesem Buch, in dem Thomas Meyer konstatiert, dem "weltweiten Interesse an Hannah Arendts Leben und Werk" stehe "eine bemerkenswerte Zurückhaltung der biografischen Forschung gegenüber." (S. 25).
Meyer hält insbesondere die Jahre in Paris nach der Flucht aus Nazi-Deutschland für einen "blinden Fleck" und konzentriert sich darauf sowie auf die ersten Jahre in den USA. Tatsächlich weist Meyer nach, dass Hannah Arendt, jene Philosophin, die die "Banalität des Bösen" erkannt hat, nicht nur die theoretisch denkende und genau beobachtende Philosophin war. Sie war im Gegenteil außerordentlich stark in jüdischen Organisationen, die sich der "Kinder- und Jugend-Alijah" – der jüdischen Immigration aus der Diaspora ins "Land Israel" – verschrieben hatten, involviert.
Die entsprechenden Erfahrungen, so Meyer, haben sich in die Biografie und die Philosophie als fester Bestandteil eingeschrieben und ihren Erkenntnisweg maßgeblich mitbestimmt.
Intellektuell unterhaltsame und hellsichtige Lektüre
Nun aber: Peter Sloterdik! Es gibt manche Leser, die schon seit Längerem auf die Fortsetzung seiner Notizen warten. Jetzt sind nun "Zeilen und Tage III" erschienen und wir können Sloterdijks Beobachtungen, Gedanken und Lesefrüchte der Jahre 2013 bis 2016 verfolgen, mancher sicher mit Genuss, mancher vielleicht mit Verdruss. Denn Sloterdijk ist ein Meister darin, aus einer minimalen Beobachtung eine bedeutende Erkenntnis zu ziehen und immer gleichzeitig mit eigenwilligen Urteilen zu verstören.
Eine intellektuell unterhaltsame und zudem in manchen Punkten erstaunlich hellsichtige Lektüre sind diese Notizen allemal – und gelegentlich ist man erstaunt, bei Sloterdijk schon von Beobachtungen zu lesen, die jetzt erst zur Erscheinung kommen.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992