Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Januar 2024
Wer glaubt, das Interesse an Literatur und ihren Produzenten wäre verschwunden, hat sich, zumindest in diesem Monat, getäuscht. So viel Interesse an ihr war auf unserer Sachbuchliste – zusammengestellt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren – jedenfalls selten.
Die Erinnerungen eines der wichtigsten Verleger der Bundesrepublik führen die Sachbuchliste im Januar 2024 an, dicht gefolgt von der Biografie Rainer Maria Rilkes, dessen Gedichte man kennt und schätzt, von dessen Leben auch der gewiefte Leser zumeist wenig Präzises weiß. Und schließlich erfahren wir noch von der Hoffnung auf ein freies Leben der Dichter im "Café Größenwahn" der Münchener "belle epoche", die letztlich eine Illusion war und im 1. Weltkrieg endete. Zu guter Letzt gilt die "Besondere Empfehlung" der Biografie des vielleicht zu Unrecht geächteten Autors Rudolf Borchardt.
Abgesang auf eine Literaturepoche
Michael Krüger, der eigentlich Obstbauer werden wollte – auch davon erzählt er –, hat Bücher als seine Früchte geerntet. Und jetzt, im Alter von 80 Jahren, hat er sich noch einmal mit seinen Dichtern und Autoren, seinen literarischen Freunden verabredet und erzählt von ihnen. Dass er dabei durch die Welt der Literatur zieht, versteht sich von selbst.
Und wen kannte er nicht alles: Reinhard Lettau und Walter Höllerer, Klaus Wagenbach, den Verlegerkollegen, Lars Gustafsson und Paul Wühr u.s.w. – alles Namen, die der versierte Literaturinteressierte auch kennt. Michael Krüger hat viele von ihnen – bis 2013 – in seinen Verlag, den Carl Hanser Verlag, geholt. Es waren seinerzeit die bedeutendsten Autoren aus aller Herren Länder – in diesem Buch finden wir viele von ihnen wieder.
Aber eben: seinerzeit! Denn obwohl eigentlich noch unsere Zeit – viele, ja, die meisten von ihnen sind vergessen, jedenfalls werden ihre Bücher nicht mehr gelesen. Krüger weiß das, und insofern ist dieses Buch, was am meisten erstaunt, auch ein Abgesang auf eine Literaturepoche mit ihren Autoren. Und so holt Krüger eben diese, seine Autoren und Autorinnen, noch einmal zurück, in seinen Begegnungen, und wir können uns wundern, wen er alles kannte.
Ökonomie, Macht und staatliche Struktur
Geradezu unheimlich ist das Nebeneinander zweier Bücher auf unserer Liste, deren scheinbar so unabhängige Themen doch in einem entscheidenden Punkt einen Zusammenhang aufweisen, dort nämlich, wo es um das Verhältnis von Ökonomie, Macht und staatlicher Struktur geht: Richard Overys "Weltenbrand" und Quinn Slobodians "Kapitalismus ohne Demokratie".
Von den vielen Hinweisen auf die Gründe für den Ausbruch des "großen imperialen Krieges 1931 – 1945" führt Overy das Bestreben der Staaten – insbesondere Deutschlands, Japans und Italiens – an, territoriale Gewinnne herbeizuführen, also, so damals, neuen "Lebensraum" zu erobern. Interessant ist dabei der Hinweis, dass der Auf- und Ausbau des eigenen Imperiums auch dazu dienen sollte, einen "geschlossenen Wirtschaftsblock zu schaffen, in dem Handel und Investitionen vom imperialen Zentrum aus kontrolliert würden statt von der Geschäftswelt" (S. 69).
Ein Schritt in den Untergang
Genau das Gegenteil, nämlich die vom Staat weitgehend unabhängige, dezentrale Einrichtung von "Sonderwirtschaftszonen" mit autonom von der Geschäftswelt organisierten Gemeinwesen und Wirtschaftsaktivitäten, konstatiert Quinn Slobodian in seinem Buch "Kapitalismus ohne Demokratie" für unsere Gegenwart, und wir erkennen: Imperialismus und Marktradikalität haben die gleichen Ziele, nämlich die Demokratie auszuhebeln und womöglich zu vernichten.
Immer wieder aber stößt man bei der Lektüre auch darauf, dass "militärische Hybris", die sich "über militärische und geographische Realitäten hinweg"(S. 79) setzte, oft ein Schritt in den Untergang bedeutete. Das mag uns trösten. Kurz und bündig jedoch: ohne Gerechtigkeit keinen Frieden. Das gilt politisch wie wirtschaftlich. Mögen die Neoimperialisten unserer Zeit daran denken.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992