Peter Uehling wurde 1970 in Berlin geboren und studierte Kirchenmusik und Musikwissenschaft. Seit 1997 arbeitet er für die Berliner Zeitung, seit 2002 ist er Kirchenmusiker in Berlin-Zehlendorf. 2006 erschien seine Biografie über Herbert von Karajan. Seit 2014 spielte er mit dem Ensemble "Wunderkammer" mehrere CDs ein, die Aufnahme von Bachs Johannespassion wurde 2020 mit dem "Opus Klassik" ausgezeichnet.
rbb
Musikserie in 21 Folgen von Peter Uehling - Johannes Brahms
Johannes Brahms ist der vielgespielte Unbekannte in unserem Musikleben. Zwar haben viele Konzertbesucher das "Deutsche Requiem", die vier Symphonien und die Konzerte für Klavier und Violine im Ohr. Aber schon die Kammermusik ist kaum bekannt und noch viel weniger die Vokalmusik, die mehr als die Hälfte des Gesamtwerks ausmacht. Hier gilt es vieles entdecken, zu beleuchten und in seiner Bedeutung neu zu gewichten. Brahms selbst hat zum Beispiel bei seinen Werken sehr genau unterschieden, ob sie für die breite Öffentlichkeit oder den privaten Kreis gedacht waren.
Brahms gilt bis heute als konservativ, und konservativ ist unser Musikleben – deswegen passen beide anscheinend so gut zusammen. Aber hinter Brahms' Konservatismus steckt doch mehr und anderes als die Ablehnung der Gegenwart. So hat er seine in der Jugend aufflackernden Gefühle mit zunehmendem Alter immer mehr hinter seinem Bart und seiner konservativen Haltung verborgen. Seine Fortschrittlichkeit hat Arnold Schönberg dagegen in dem engen Geflecht der Themen und Motive gesehen, das ihm ein Vorbild war. Für den Dirigenten Christian Thielemann ist Brahms heute aktuell, weil in seinen Werken die Hierarchien von Haupt- und Nebeninstrumenten aufgehoben werden. Es erscheint damit auch ein utopischer Moment.
In der neuen Serie wollen wir genauer hinschauen und in dem vielgespielten Unbekannten den modernen Unzeitgemäßen entdecken.
rbb
Musikserie - Der Start im Gängeviertel (1/21)
Brahms kam in einer der ärmsten Gegenden Hamburgs zur Welt. Sein Vater war jedoch ein musikalischer Aufsteiger, der die Begabung seines Sohnes förderte – aber nur bis zu dem Punkt, an dem Brahms zum Familieneinkommen beitrug. Als der schüchterne Junge Komponist werden wollte, stieß er schnell auf Widerstand.
Mit knapp 20 Jahren ging der noch völlig unbekannte Brahms als Klavierbegleiter auf Tournee, traf Liszt und Schumann und sah sich nach nicht mal einem Jahr zum Hoffnungsträger der deutschen Musik ausgerufen: Eine Karriere in nie zuvor gesehenem Eiltempo – mit dem Schritt zu halten Brahms allerdings noch lernen musste.
Brahms geriet im Haus von Clara und Robert Schumann stark unter den künstlerischen und menschlichen Einfluss romantischer Ideen. Das Miterleben von Schumanns grausames Ende in der Irrenanstalt und die schwierige Liebe zu dessen Frau irritierten ihn zutiefst und zwangen ihn, künstlerisch neue Wege zu suchen.
Zuhause in Hamburg wurde es Brahms zu eng. Er nahm verschiedene Stellungen an und floh dann doch wieder vor ihnen davon, er dirigierte Chöre und ging als Pianist auf Tournee. Er findet Freunde und Freundinnen, aber keine Liebe. Und bei alledem findet er allmählich heraus, wie sein Weg als Komponist verlaufen soll.
Frauen spielten im Leben von Brahms eine große, aber sonderbare Rolle. Immer auf der Suche, immer auf der Flucht, regten sie ihn an und wurden schnell an den Rand geschoben, wenn sie ihre Rolle gespielt hatten – die lebenslange Freundschaft mit Clara Schumann war die große Ausnahme.
Schon als junger Mann empfand sich Brahms als "veraltet". Er studierte im großen Umfang alte Musik und gab Stücke, die andere als Studien betrachtet hätten, als Werke heraus. Sein Konservatismus beschränkt sich aber nicht nur auf die Ablehnung der damals modernen Musik, sondern hat auch eine politische Seite.
Dies ist das Werk, mit dem Brahms berühmt wurde. Dem großen Konservativen gelang hier gleichwohl etwas vollkommen Neues, ein Oratorium ohne Handlung, eine Totenmesse für die Lebenden, eine stilistische Synthese von altmeisterlichem Kontrapunkt und sensibel modernem Ausdruck.
Brahms' Entscheidung für Wien als Lebensmittelpunkt war langwierig. Die Institutionen und das begeisterungswillige Publikum der Stadt waren sicher ideal –aber sowohl Wien als auch Brahms waren in einem Prozess der Neuerfindung begriffen, der die Annäherung erstkompliziert, dann fruchtbar machte.
Brahms hat die Wichtigkeit des Volkslieds für sein Schaffen immer herausgestellt, indem er zahlreiche Volkslieder bearbeitet und sich auch beim Entwickeln eigener Melodien vielfach an ihnen orientiert hat. Das Volkslied war für Brahms ungefähr, was für die Komponisten der Renaissance und der gregorianische Choral, was für Bach das protestantische Kirchenlied oder für die Wiener Klassik das Menuett war: Der stilbestimmende, zur unausgesetzten Beschäftigung animierende cantus firmus ihres Komponierens.
Musikserie - Große Musik für den kleinen Kreis (10)
Für das private Musizieren und Hauskonzerte schuf Brahms einige seiner besten Werke. Seine Kammermusik fordert musikalisch und intellektuell heraus. Das war er dem Kreis seiner hochgebildeten Freunde auch schuldig. Aber auch außerhalb gab es durchaus noch einen Markt für anspruchsvolle Hausmusik und Klavier-Arrangements großer Werke.
Das Schaffen von Johannes Brahms läuft auf seine vier Symphonien zu und kulminiert in ihnen. Nach einer langen Anlaufzeit entstehen enorm dichte Werke sowohl auf der kompositorischer Ebene wie auch auf der ihres poetischen Gehaltes. Nähe und Distanz vor allem zu Beethoven und Wagner zeichnen sich in ihnen ab, daneben deutliche Bezüge zu Bach, Haydn und Mozart.
In den Sommermonaten bezog Johannes Brahms gerne Wohnungen auf dem Land oder in Kurorten, wo er ohne gesellschaftliche Zwänge die Landschaft und die Gesellschaft von Freunden genießen konnte. Und er hatte Ruhe zum Komponieren. So entstand die Vierte Sinfonie in Mürzzuschlag in der Steiermark und auch am Thuner See in der Schweiz hatte er produktive Sommertage. Besonders häufig war er in Ischl anzutreffen, wo er sich besonders ungezwungen geben konnte.
Eigentlich galt Johannes Brahms als eher zurückhaltender Mensch. Im Kreis seiner Freunde und Freundinnen lebte er jedoch auf und pflegte langjährige Beziehungen. Nicht nur musikalische Geister wie Clara Schumann, der Geiger Joseph Joachim oder das Ehepaar Herzogenberg zählten zu seinem engen Freundeskreis. Auch der Dichter Klaus Groth und der musikbegeisterte Chirurg Theodor Billroth gaben Brahms Impulse oder einen Resonanzraum. Vor allem in seiner Kammermusik und den Liedern spiegelt sich Brahms soziales Leben wider.
Zumindest finanziell ging es dem reifen Brahms immer gut, er konnte sogar sein Geld zum Wohl seiner Familie oder zur Förderung von Kollegen weitergeben. Sein Wohlstand verdankt sich zum einen zwar auch seiner Genügsamkeit, zum anderen aber auch den Verdienstmöglichkeiten eines Musiklebens, das es so nur im 19. Jahrhundert gab.
Brahms gilt als bedeutendster Komponist von geistlicher Musik im 19. Jahrhundert – aber mit der Kirche wollte er nichts zu tun haben. Seine Musik erfüllte als Kunst eine Funktion, die sonst der Religion zukam – sie tröstete. Ob Brahms diesem Trost selbst vertraute, ist allerdings eine andere Frage.
Brahms wollte immer nur Komponist sein. Seine starken historischen Interessen jedoch machten ihn zur Instanz sowohl als Herausgeber älterer Musik und als Bearbeiter. Schließlich wurde er durch seine traditionelle Verwurzelung auch einflussreich und vorbildlich – obwohl er keine offiziellen Schüler hatte.
Brahms wurde zum Antipoden Wagners ausgerufen, obwohl sie unterschiedlichen Generationen angehörten und als Symphoniker und Opernkomponist nicht einmal wirklich Konkurrenten waren. Wie konnte es dazu kommen – und fanden sie sich wirklich gegenseitig so schlimm, wie es die Öffentlichkeit wollte?
Brahms verdiente nicht nur gut mit seiner Musik, sie war auch erfolgreich im stilbildenden Sinne. Zwar gab es um Brahms keinen Kult, der mit dem um Wagner vergleichbar gewesen wäre – aber gehuldigt wurde ihm im großen Maßstab bis hin zu diversen Verdienstorden: "Sie sind mir wurscht, aber haben will ich sie doch!"
Brahms begriff sich als das "Ende der Musik" – Gustav Mahler hat sich darüber lustig gemacht. In seinem Spätwerk inszeniert Brahms dieses Ende sehr eindrucksvoll – dennoch folgte ihm eine sehr bunte Avantgarde, die vom Tod nichts wissen wollte. Vielleicht aber ergibt Brahms' Rede vom "Ende" doch einen Sinn...
Musikserie - Der Fortschrittliche und seine Nachfolger (20/21)
Brahms galt als konservativ, bis Arnold Schönberg das Gegenteil behauptete und Brahms als "Fortschrittlichen" begriff. Die Wahrnehmung des Komponisten im 20. Jahrhundert ist dennoch schwankend: Pierre Boulez fand ihn langweilig, Wolfgang Rihm spürte in fortgeschrittenem Alter eine große Nähe – folgen wir Brahms' Spuren bis zur Gegenwart!
Brahms hatte Glück: Mit seinem lebenslangen Freund Joseph Joachim hatte er immer einen großen Interpreten an der Seite. Er selbst hat ebenfalls als Dirigent und Pianist die Interpretation seiner Werke geprägt. In der letzten Folge betrachten wir die großen Kontinuitäten und interessanten Ausreißer der Brahms-Interpretation.